Göttlich und gottlos

"Als wir uns für Trashkultur einsetzten, hatten wir nicht die leiseste Ahnung, dass das die einzige Kultur werden würde."


Pauline Kael, kurz vor ihrem Tod


Woche 15/2009 (16.4. - 22.4.)

Die Neustarts:


IL DIVO – DER GÖTTLICHE ist der spöttische Titel eines Biopics über den ehemaligen Chef zahlreicher italienischer Regierungen, Guilio Andreotti. Und so sehr mir dieses Genre sonst gegen den Strich geht, dieser Film könnte auch Biopic-Hassern gefallen, handelt es sich doch weder um eine Heldenverehrung, noch um den Versuch, möglichst genau die Wirklichkeit nachzustellen: Die Darstellung durch Toni Servillo ist wohl eher eine Karikatur, und Buch und Regie leisten sich jede Menge Freiheiten wie groteske Elemente, Traumsequenzen und symbolhafte Szenen, für die es keine realen Vorbilder gibt. Jan Schulz-Ojala schreibt im Tagesspiegel von einer "theatralen, grandios choreografierten Metapher". Und von Andreas Kilb, dem der Film auch gefallen hat, druckte die FAZ die schönen Sätze: "Der siebenfache Ministerpräsident A. verdankt sein Überleben offenbar seiner Fähigkeit, sich vom Blut seiner Gegner zu nähren. Nur sieht man ihn nie trinken." Schade, dass das Subjekt dieses ungewöhnlichen Politfilms bei uns nicht mehr so bekannt ist wie der derzeitige mächtige Mann Italiens; das dürfte das potentielle Publikum für diesen Film bescheiden klein sein lassen. Aber vielleicht wagt sich ja hierzulande mal jemand mit ähnlichem Biss an die Biographien von Helmut Kohl oder Gerhard Schröder. Ja ja, ich träum weiter.

IL DIVO – DER GÖTTLICHE läuft bei uns nur im Passage und nicht einmal im großen Saal; da sollte man sich bei Interesse beeilen; wahrscheinlich ist der Film nächste Woche wieder aus der Hansestadt verschwunden. Hier die Kinos anderswo.


SECRET SUNSHINE ist ein offenbar sehr langsam, lapidar und originell erzählter Film aus Südkorea über eine Frau, die einen schrecklichen Verlust erleidet, daraufhin zu Gott findet und diesen nach einer höchst unerfreulichen Erfahrung auf aggressive und originelle Weise wieder von sich stößt. In Cannes lief er vor zwei Jahren (!) im Wettbewerb; die Hauptdarstellerin Do-yeon Jeon, die sehr überzeugend erstaunliche Wandlungen glaubhaft machen muss, erhielt dort den Preis als beste Schauspielerin. Auf eine scharfe Religionskritik läuft das dann aber doch nicht hinaus; das Ganze bleibt so offen, dass es auch dem katholischen Filmdienst ("kleines Meisterwerk") und dem evangelischen Pressedienst ("eine südkoreanische Variante von UNSERE KLEINE STADT, gepaart mit dem ästhetischen Anarchismus von David Lynch") gut gefällt. Sich den Film anzuschauen ist wahrscheinlich eine lohnenswerte Geduldsprobe, die bei uns kein kommerziell betriebenes Kino seinen Zuschauern zumuten will; zum Glück ist das Metropolis eingesprungen. Hier die Kinos im Rest der Republik.


Außerdem neu:



Klingt interessant: Das klassische Marial-Arts-Kino aus Hongkong wird frisch und respektvoll von Hollywood aufbereitet für ein junges Publikum im Westen und überall in der Welt. Dafür wurden keine Geringeren als Jackie Chan und Jet Li rekrutiert, die ausgerechnet hier erstmals gemeinsam antreten. Und, nicht überraschend, die Choreografie der Kampfszenen soll auf höchstem Niveau sein. Der Plot: Ein etwa vierzehnjähriger amerikanischer Junge, der von alten Shaw-Brothers-Filmen schwärmt, begibt sich auf wundersame Weise auf eine Reise durch Raum und Zeit in ein nicht näher bestimmtes "altes China", wo die üblichen Abenteuer mit Affenkönig, Kriegsherren und Kung-Fu-Meistern folgen. Dürfte ein Mordsspaß für zwölfjährige Jungs sein, die letztes Jahr vom KUNG FU PANDA angefixt wurden. Regie führte Rob Minkoff, dessen überschaubare Filmografie von zwei Cartoon-Meisterwerken mit Roger Rabbitt und den beiden charmanten STUART-LITTLE-Filmen geschmückt wird.

FORBIDDEN KINGDOM läuft im Cinemaxx, Cinemaxx Wandsbek und in den UCI-Multiplexen. Und hier andernorts.

Und weil ich mir eine solche Gelegenheit zum Missionieren nicht entgehen lasse, hier einer der Roger-Rabbitt-Filme Minkoffs, ein gelungener Versuch, an die goldenen MGM-Zeiten Tex Averys anzuknüpfen:




Der völlig überdrehte Hochgeschwindigkeitsactionreißer CRANK lief letzte Woche im Fernsehen; nun kommt eine Fortsetzung in die Multiplexe, die es eigentlich nicht geben dürfte, da der von Jason Statham gespielte Held in einer der zahlreichen erfrischenden Verstöße gegen Genreregeln am Ende des ersten Films aus einem Hubschrauber stürzt. So abstrus, wie die Fabel trotzdem wieder aufgenommen wird, ist wohl auch das ganze Sequel, in dem alle Plausibilität selbstbewusst über Bord geworfen und das irrsinige Tempo des Vorgängers noch gesteigert wird. Michael Kohler meint in der FR: "Am besten und das heißt schlichtweg grandios ist CRANK – HIGH VOLTAGE in seinen parodistischen Momenten - ansonsten ist er immerhin noch einzigartig."

Nils Bothmann hat's dagegen gar nicht gefallen und seine im Schnitt ausgebreiteten Argumente hören sich recht plausibel an: Die Kamera halte wie im "billigen Hip-Hop-Video" ausführlich auf halbnackte Frauenkörper drauf, die Freundin des Helden sei eine nervende "verblödete Prostituierte" und der Rest des Humors habe auch nicht mehr Niveau: "Witze über Klischee-Schwule, körperliche Behinderungen und Schmerzen im Genitalbereich sind da an der Tagesordnung und in etwa so lustig wie ein volltrunkener Altherrenstammtisch". Außerdem gebe es deutlich weniger Action-Szenen, und die Inszenierung sei völlig unübersichtlich; Bothmanns zieht im Verleich zum Vorgänger das Fazit: "Aus politisch inkorrekt wird primitiv, aus übertrieben wird überkandidelt."

Vielleicht gefällt das ja Harald Martenstein, der erleichtert sein dürfte, dass hier ganz bestimmt keine "starken Frauen" auftreten und auch keine Männer in den Hauptrollen, die "schwach, dumm, stumm oder sogar Arschlöcher sind". Kino für Kerle.

CRANK – HIGH VOLTAGE läuft in sämtlichen Multiplexen, überall.


LIEBE AUF DEN ZWEITEN BLICK ist eine süßliche und sentimentale Romcom mit Protagonisten kurz vorm Rentenalter, gespielt von Dustin Hoffman und Emma Thompson. Der Kritik in den USA und in Großbritannien hat das erstaunlich gut gefallen (71%), den imdb-Nutzern ebenfalls (7,4). Wer, wie ich, den Film sicher nicht mögen wird, guckt und bespricht und bewertet ihn wohl einfach nicht, oder hat jemand eine plausiblere Erklärung für diese Zahlen? Vielleicht testet ja jemand von Euch im Kino aus, ob es sich hier vielleicht tatsächlich um einen tollen Film handelt. Ich bitte um Berichterstattung.

LIEBE AUF DEN ZWEITEN BLICK läuft bei uns im Elbe, Holi, UCI Mundsburg und im Streits OF, hier die Auflistung sämtlicher Kinos im Land.


RADIO ROCK REVOLUTION heißt eigentlich im Original, nicht ganz so schlimm, THE BOAT THAT ROCKED und bietet einen nostalgischen und komödiantischen Rückblick auf ein popkulturell bedeutsames Phänomen der Sechziger, die britischen Piratenradioschiffe. Die Kritiken hierzulande sind fast durchweg positiv; der Film sei sehr unterhaltsam, sind sich fast alle einig, und gelobt werden die Darsteller (unter anderem Philip Seymour Hoffmann). Der Spiegel versteigt sich sogar zu einem Vergleich mit den Beatlesfilmen von Richard Lester. Tatsächlich hat der Regisseur Richard Curtis, bislang vor allem als Drehbuchautor Spezialist für biedere Komödienkost wie VIER HOCHZEITEN UND EIN TODESFALL, wohl nicht viel mehr als eine mäßig witzige Nummernrevue zusammengehauen, die sich oberflächlich vom Zeitgeist und Stil der sechziger Jahre nährt. "Überlang, schlecht getimed und schlampig inszeniert," urteilt Wally Hammond in TimeOut. Und weiter schreibt er, der Film verstehe es "auf magische Weise, den chaotischen, kreativen Geist der sexuellen und kulturellen Revolution auf einen mechanischen Katalog von abgedroschenen und überraschend sentimentalen Sex-Drugs-and-Rock'n-Roll-Klischees zu reduzieren". Das Tomatometer zeigt 53% an; bei imdb hat der Film allerdings die Durchschnittsnote 7,4.

Ach, nicht nur dass wir miterleben müssen, wie völlig bedeutungslos Pop in diesen lausigen Zeiten ist, in denen im Feuilleton wöchentlich Retrobands bejubelt werden, während die Jugend sich an unbedingte Anpassung trainierenden Casting- und Modelshows orientiert; darüberhinaus müssen wir mitansehen, wie relevantere Epochen des Pop in mittelmäßigen Mainstreamkomödien verwurstet oder im Museum ausgestellt werden, was kein Deut besser ist. Aber genug lamentiert; jetzt wird iTunes angeworfen, denn die Musik können sie uns bekanntlich nicht nehmen.

RADIO ROCK REVOLUTION läuft im Abaton OmU, im Streits OF, im Koralle, Cinemaxx, Cinemaxx Harburg und in den UCI-Multiplexen. Hier die Kinos anderswo.


Die Zeichentrickadaption der Wildwestgeschichten lief als Serie auf Kika, und jetzt kommt noch ein Nachschlag in Spielfilmlänge in die Kinos. WINNETOONS – DIE LEGENDE VOM SCHATZ IM SILBERSEE ist offenbar Karl May für Doofe, bzw. für Kinder; das scheint für die Macher eh das Gleiche zu sein. Der Stoff wurde formal und inhaltlich auf das internationale Mittelmaß des Kinderfernsehens runtergebrochen, wenn man vom gruseligen Trailer auf den Rest schließen kann. Im Hamburger Abendblatt habe ich gelesen: "Die Idee, Kindern den etwas angestaubten Mythos Winnetou mit einer lebendigen Trickfilmversion wieder schmackhaft zu machen, ist tödlich. Indes gelingt das mit "Winnetoons - Die Legende vom Schatz im Silbersee" nur bedingt". Häh? Beim zweiten Blick steht da dann aber doch "löblich" und nicht "tödlich".

WINNETOONS läuft im Koralle, Cinemaxx, Cinemaxx Harburg und im UCI Wandsbek; hier alle weiteren Orte.


Wöchentliche Provinzialitätsmessung:


Anderswo startet diese Woche außerdem eine deutsche Doku über ein Jugendorchester in Venezuela, EL SISTEMA (Kinos), ein türkisches Drama, GÜNESI GÖRDUM – ICH SAH DIE SONNE, das sich erstaunlicherweise angeblich neutral mit dem Kurdenkonflikt auseinandersetzt (Kinos), THIS CHARMING GIRL, ein Film aus Südkorea über die Leiden einer einsamen jungen Frau von der Post (Kinos) und eine britische Romcom über Lesbierinnen mit Migrationshinterdings, I CAN'T THINK STRAIGHT (Kinos). Damit erreichen wir wieder ein richtig schön provinzielles Ergebnis: In Hamburg starten nur 64% der neuen Filme. In Berlin dagegen, ja, alle, wie immer.


Weiterhin:


BEDINGUNGSLOS – JUST ANOTHER LOVE STORY im 3001 und im Abaton. Hier die übrigen Kinos.

RACHELS HOCHZEIT nur noch nachmittags im Blankeneser und spät im UCI Othmarschen. Wahrscheinlich die allerletzte Woche. Hier die übrigen Kinos.

STELLET LICHT noch nachmittags im 3001. Hier die übrigen Abspielorte im Land.

SLUMDOG MILLIONAIRE bei uns im Streits OF, im Abaton OmU und in deutscher Fassung im Magazin, Zeise, Koralle und in allen Multiplexen. Die Kinos andernorts hier.

GRAN TORINO bei uns am Sonntag im Streits OF, ansonsten im Elbe, im Holi, Zeise, im UCI Mundsburg, UCI Wandsbek und hier andernorts.

JERICHOW am Mittwoch im Abaton. Und hier andernorts.


Nicht mehr bei uns, aber noch anderswo zu sehen: THE WRESTLER (Kinos), DER KNOCHENMANN (Kinos), THE FALL (Kinos), REVANCHE (Kinos), JERICHOW (Kinos), SO FINSTER DIE NACHT (Kinos), 35 RUM (Kinos), ALTER UND SCHÖNHEIT (Kinos), IT´S A FREE WORLD (Kinos), DER FREMDE SOHN (Kinos), O´HORTEN (Kinos), DIE KLASSE (Kinos), WALTZ WITH BASHIR (Kinos), BOLT (Kinos), VICKY CRISTINA BARCELONA (Kinos) und DIE PERLMUTTERFARBE (Kinos).



Außer der Reihe:




Im Metropolis läuft eine kleine Doku-Reihe zum Thema besseres Essen und bessere Landwirtschaft unter einem Titel, der auch der Claim einer Supermarktkette sein könnte: "Gut essen und leben". Es scheint, wie bei dem Thema wohl unvermeidlich, aber erstmal wieder viel um schlechtes Essen und schlechtes Leben zu gehen. Die unter anderem gezeigte NDR-Produktion "Ware Tier: Auf der Suche nach dem glücklichen Huhn" aus der das Bild oben stammt, lässt sich übrigens auch hier komplett aus dem Netz ziehen. Ganz legal.

Außerdem im Metropolis ein früher, noch stummer Western von John Ford, THE IRON HORSE und die Fortsetzung der Gérard-Dépardieu-Reihe.



Umsonst und zuhause:


Am Donnerstag:




Die spannende und traurige Geschichte eines armseligen Drogenschmuggels: MARIA VOLL DER GNADE, auf 3Sat um 22:25 Uhr. ShowView 94.130.516


Auch am Donnerstag:



Eine hübsch verspielte, clevere und sehr unterhaltsame Hommage an die Nouvelle Vague ist AUF ANFANG aus Norwegen. Einer der schönsten Filme, die 2007 bei uns im Kino liefen, leider ohne viel Resonanz beim hiesigen Publikum. Zum ersten Mal im Fernsehen. Bloß nicht verpassen! Um 23:15 Uhr im WDR. ShowView 3.980.055


Die restlichen Fernsehtipps kommen später dazu; ich schaff das jetzt nicht mehr.


Eine Googleabfrage, die letzte Woche jemanden
auf diese Seiten führte: "gloryhole grenze dänemark".

2 Kommentare:

  1. Hallo,

    ich sehe gerade beim wöchentlichen Genuss der Kinoprovinz, dass es hier gar keine Kommentare gibt - das geht ja gar nicht! ;-)

    Dann möchte ich doch kurz die Rückmeldung geben, dass ich bisher wohl jeden Eintrag gelesen habe und immer begeistert bin!
    Vielen Dank für die große Mühe und (wie ich es heraus lese) liebevolle Sorgfalt.
    Ich genieße den wöchentlichen Einblick in die Kinowelt und verzichte mittlerweile auf alle anderen Filmkritikangebote.

    Weiter so! :-)

    Die "zu Hause"-Rubrik ist ebenfalls schon oft eine tolle Quelle gewesen ...

    okeo

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