Sodom und Wurst

Woche 37/2008



Ein Film über die neapolitanische Mafia, basierend auf dem Sachbuch von Roberto Saviano, einer wahrhaft mutigen Wallraffiade. Der Film greift sich souverän einige der realen Charaktere heraus und beschreibt nüchtern und episodisch die Strukturen der Camorra, von ganz unten angefangen. Die deutschen Kritiker sind sich alle einig, dass das Ergebnis ungemein realistisch sei, wobei man sich fragen muss, woher die eigentlich alle die profunden Kenntnisse über die reale Verbechensorganisation besitzen, um das überhaupt beurteilen zu können. Jedenfalls wirkt es wohl alles sehr realistisch, was viel mit der zurückgenommenen Inszenierung, den vielen Laiendarstellern und dem Drehort zu tun hat: Gefilmt wurde am Nährboden der Organisation, im Vorort Scampia. In Cannes gab es für das offensichtlich sehr beeindruckende Werk die goldene Palme, in einigen Kritiken war die Rede von einem neuen Neorealismus, also einem Neoneorealismo. Ich bin sehr gespannt und freue mich seit langem mal wieder auf einen Film, der keine Spur bieder und gefällig ist, wie so viele andere jüngere Produktionen aus Italien. GOMORRHA läuft im Abaton, im Zeise, im Cinemaxx und spät im UCI Othmarschen. Wer keine Lust auf deutsch sprechende Neapolitaner hat, muss leider bis nach Berlin fahren: Im schönen Odeon läuft die untertitelte Fassung.



Außerdem neu:



Eine stark vereinfachte filmische Nacherzählung von Uwe Timms DIE ENTDECKUNG DER CURRYWURST. Erzählt wird die Geschichte einer Mittvierzigerin, die kurz vor Kriegsende einen jungen Deserteur in ihrer Hamburger Wohnung versteckt und ihm das Kriegsende verschweigt, um das Liebesverhältnis länger weilen zu lassen. Das fliegt nicht erst nach 20 Jahren auf, wie in Kusturicas UNDERGROUND, sondern recht schnell... Die Hauptrolle spielt Barabara Sukowa und das Wiedersehen mit ihr scheint auch so ziemlich der einzige Grund zu sein, der einen Kinobesuch begründen könnte. Ansonsten ist Ulla Wagners Film wohl von der üblichen deutschen Qualität: Erzählt wird "mit den Mitteln und Limitationen eines allenfalls moderat ambitionierten Fernsehspiels, das kein dramaturgisches Zugeständnis an den Zuschauer scheut", so Ulrich Kriests Fazit im filmdienst. Unterhaltsamer scheinen mir die Aktivitäten des "Currywurst Club Hamburg" zu sein, der eine Gedenktafel für die fiktive Protagonistin des Romans wie des Films am Großneumarkt angebracht hat, zu Ehren ihrer angeblichen Entdeckung der Currywurst, die sie mittels eines Treppensturzes macht. Dass Herta Heuwer die Currywurst in Berlin erfunden haben soll, wird vom Club als dreiste "Wurstlüge" bezeichnet. DIE ENTDECKUNG DER CURRYWURST läuft im Elbe, im Zeise und im Holi.



Und: Eine Komödie über erwachsene STIEFBRÜDER, gespielt von Will Ferrell und John C. Reilly, die sich wie Kinder gebärden. Ich fürchte, das ist eine Art von Komik, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann. Aber ihr vielleicht? Läuft allerdings und seltsamerweise nur im Cinemaxx Harburg, also eigentlich gar nicht.



Und: BABYLON A.D., ein klotziger Rumsfilm mit Vin Diesel als Söldner, der aus dem finsteren Osteuropa eine junge Frau ins gelobte New York bringt. Action und pseudoreligiöser Quark, noch viel schlimmer als in CHILDREN OF MEN, eine höchst unattraktive Mischung, wie ich finde. Wieder mal ein Versuch aus Frankreich, selber so doofe Blockbuster mit internationalem Potential zu produzieren. Regie führte Mathieu Kassovitz, der früher tolle Filme wie das Vorstadtdrama DER HASS gemacht hat. Läuft in den Multiplexen und im Streits OF, auf englisch, nicht etwa auf französisch.



Und: Ein österreichischer Film, der sich an einer David-Lynch-artigen Geschichte versucht. Eine Frau zieht in eine Wohnung in einer unwirtlichen "Neustadt", in der extreme Sicherheitsmaßnahmen getroffen wurden und dann verschwimmt Halluzination und Realität. Den Kritiken nach zu urteilen, scheint das auf peinlichste daneben gegangen zu sein. "Hölzerne Figuren, aufdringlich zur Schau gestelltes Kunsthandwerk und eine betont verrätselte Handlung: Irgendwo zwischen wohlfeiler Gesellschaftskritik und klaustrophobischem Science-Fiction-Film angesiedelt, lädt sich WEISSE LILIEN ein Übergewicht an Bedeutungsschwere und Kunstlast auf. So kommt der Film anfangs nur ächzend voran – am Ende bricht er leblos in sich zusammen", schreibt Julian Hanich in Ticket. Läuft im 3001, das in letzter Zeit leider häufiger ziemlichen Quark ins Programm genommen hat.



Und: Ein Dokumentarfilm, der Ekel vor Berlin generieren könnte: BERLIN SONG begleitet irgendwelche Musiker von irgendwoher, die jeweils einen Song über einen selbst ausgesuchten Ort in Berlin geschrieben haben. "Der Film ist alles, was einem an Avantgarde bzw. dem, was in entsprechender Pose daherkommt, auf die Nerven gehen kann. Und er belegt, dass man nicht automatisch klüger oder interessanter wird, wenn man nach Berlin zieht", so Rüdiger Suchsland im filmdienst. Noch mehr prätentiöser Quark und auch wieder im 3001. Und ich fress einen Besen oder noch schlimmer, guck mir den Film an, wenn da eine 35mm Kopie zur Aufführung kommt. Wird wohl wieder nur ein pixeliges Beamerbild geben.



Und: Schon wieder eine Doku über die Rettung der Welt durch die klassischen Künste, sowas schauen wir gern an, soziales Engagement vermählt mit Hochkultur, die gute Sache und dann auch noch mit Geschmack. DANCE FOR ALL erzählt von einem Tanzprojekt in südafrikanischen Townships, das nicht im Fahrwassser von RHYTHM IS IT entstanden ist, sondern schon 1991 gegründet wurde. Läuft im Abaton.



Wöchentliche Provinzialitätsmessung:

Diese Woche startet anderswo außerdem auch noch der märchenhafte Schweizfilm mit Meerjungfrauen (!?) I WAS A SWISS BANKER. Bei uns laufen also 88 % der neuen Filme an. In Berlin laufen sie, wie immer, alle.



Weiterhin:



CHIKO wieder spät im UCI Wandsbek. Künstlerisch wie kommerziell erfolgreiche Hamburg-Filme kriegen in den letzten Jahren ausschließlich Hansetürken hin. Akin und Yildirim müssten eigentlich Verdienstorden wegen vorbildlicher Vorbildfunktion umgehängt bekommen. Oder steckt man Orden an?

COUSCOUS MIT FISCH im Passage.

39,90 im Abaton, im Alabama und spät im UCI Othmarschen.

HAPPY-GO-LUCKY im Blankeneser.

DR. ALEMAN noch an einigen Tagen spät im UCI Mundsburg.

TAGE DES ZORNS im Abaton.

ICH HABE DEN ENGLISCHEN KÖNIG BEDIENT nur noch nachmittags im Passage.


Und wer ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND noch nie gesehen hat, der umwerfend komische Film mit höchst einfallsreichen Bildern aus dem Kopf von Jim Carey, der hier ausnahmsweise mal richtig gut ist (Michel Gondry, Regie und Charlie Kaufman, Drehbuch, sind´s sowieso), kann das am Donnerstag oder am Sonntag im B-Movie nachholen. Läuft erfeulicherweise OmU und der dämliche deutsche Titel "Vergiss mein nicht" wird von den Programmachern einfach und berechtigt unterschlagen.

THE DARK KNIGHT taucht in dieser Auflistung ab sofort nicht mehr auf, denn inzwischen war auch ich drin und meine moderaten Erwartungen wurden ziemlich enttäuscht: Ist doch nur das übliche Blockbustergedonner mit einem sehr aufdringlichen dauerstampfenden orchestralem Soundtrack. Dazu kommen ständig doofe bedeutungsschwangere Dialoge über Moral und Verantwortung und das Gute und das Böse, todernst, was den Fledermausmannfilm doch recht lächerlich erscheinen lässt. Dagegen finde ich die Haltung des ersten Superman-Films, den ich neulich wiedergesehen habe, geradezu sympatisch. Da wird die Naivität der Vorlage aufs schönste mit kleinen Ironisierungen gespickt, ein viel erwachsenerer Umgang mit solchen Capeträgermythen. Bei all dem furchtbaren Ernst des neuen Batman kommt unfreiwillig der faschistoide Kern der Erlösungsphantasien durch allmächtige weiße oder schwarze Ritter zum Vorschein, falls ich mir diese spaßverderbende Ansicht noch erlauben darf. Apropos Ansicht: Visuell ist das auch nicht sonderlich beeindruckend, das recht real aussehende Gotham City des DARK KNIGHT verblasst ziemlich gegen Tim Burtons gothic designs der ersten beiden Batmanfilme. Der spektakulär gefloppte SPEED RACER sieht vergleichsweise originell aus. Und Heath Ledger? Sein Joker ist sicherlich noch das Beste am Film, aber sooo toll nun auch wieder nicht, da fallen mir aus dem Stegreif jede Menge Filmbösewichter ein, die dann doch viel verstörender und furchteinflößender sind als der Clown. Am Besten gefällt er mir, als er aus dem Krankenhaus trapst und auf seiner Fernzündung rumdrückt, die nicht gleich zufriedenstellend funkioniert, bis dann doch alles in die Luft fliegt. Wenn doch nur Platz für ein paar mehr so komische Details gewesen wäre!



Dies und das:


Außer GOMORRHA kann man diese Woche in Hamburg noch einige neue Filme aus Italien sehen: Das Festival "Cinema! Italia!" ist zu Gast in der Stadt, diesmal im Metropolis, alle räumlichen und personellen Verbindungen zum Zeise sind offenbar gekappt. Ich habe nicht ins Programm geguckt und bin dankbar für einen Hinweis, falls jemand auf etwas Interessantes stößt.


Wer als Nazikomparse beim neuen Tarantinofilm mitspielen möchte, sollte sich zum Casting am Samstag, dem 20.9. oder aber am darauffolgenden Samstag, dem 27.9. jeweils zwischen 11 und 16 Uhr auf dem Gelände des Studio Babelsberg in Potsdam einfinden, Stage 9, August-Bebel-Straße 26-53. Anmeldung ist nicht nötig, weitere Informationen hier. Die besten Chancen haben blonde Männer zwischen 20 und 40.


Filme, die wir zum Glück nicht gesehen haben, Folge 25:

Luc Bessons Versuche französisches Blockbusterkino zu fabrizieren haben mir noch nie sonderlich zugesagt. Aber nichts war wohl so schlimm wie der computeranimierte ARTHUR-Film. Alles scheußlich: das Design der Figuren, die Hintergründe und die Allerweltsfantasymär. Die nächsten beiden Teile werden nicht lange auf sich warten lassen, denn bei diesem Genre gilt ja strengstes Trilogiegebot.
Tolle Computeranimationen mit noch kleineren Protagonisten, auch aus Frankreich, sind dagegen die Miniscule-Kurzfilme. Eine herrliche Mischung aus Tex Avery und MIKROKOSMOS. Gibt´s auf DVD. Hier eine kleine Kostprobe:



Umsonst und zuhause:



Am Donnerstag zeigt 3Sat um 22.25 Uhr DIE REISE nach dem autobiografischen Roman des Gudrun-Ensslin-Gefährten Bernward Vesper. Die freie Adaption des Schweizers Markus Imhoof von 1986 mit Will Quadflieg als Altnazi soll besser sein als die übrigen RAF-Filme. Mal gucken. ShowView 36.272.817



Aus Chile stammt der Film MACHUCA, MEIN FREUND, ein Coming-Of-Age-Drama vor dem Hintergrund des Pinochet-Putsches 1973, soll ein intensives Meisterwerk sein und wäre sicher auch toll für Heranwachsende ab 12, die den Film wohl aber eher nicht zu sehen kriegen werden. Läuft unbemerkt auf 3Sat am Freitag um 22.25 Uhr. ShowView 36.243.305



ZWEI SCHWESTERN ist ein koreanischer Psychohorrorfilm von 2003, der visuell aufregend die Geschichte von zwei gestörten, erwachsenen Schwestern erzählt, denen nach dem Tod ihrer Mutter allerlei Unbill durch die Stiefmutter und einen Geist droht. Läuft am Freitag um 23.25 Uhr auf arte. ShowView 8.215.928



Das Erste zeigt in der Nacht von Freitag auf Samstag die letzten beiden Teile der erweiterten Fernsehfassung des PATEN, die bei imdb übrigens höher bewertet ist als die beiden ersten Spielfilme (9,5 statt 9,1/9,0). Teil 3 um 01.20 Uhr, ShowView 7.771.918, Teil 4 um 02.55 Uhr, ShowView 62.287.110



Am Samstag zeigt Kabel1 um 22.30 Uhr einen weiteren sehr aufwendigen Film aus Frankreich, VIDOCQ, die düstere Detektivgeschichte, die in einem finsteren und artifiziellen Paris des 19. Jahrhunderts spielt. Regie führte Pitof, der mit den Special Effects bei den Jeunet-und Caro-Filmen bekannt wurde und später CATWOMAN verbockte. ShowView 9.908.481



Ebenfalls am Samstag zeigt arte um 22.30 Uhr einen Film, der es im Februar nicht bis zu uns in die Kinoprovinz geschafft hat: DAS WELTGERICHT VON BAMAKO. Eine französische Semidokumention, die eine Gerichtsverhandlung in Mali zeigt. Angeklagt sind Unternehmen und Institutionen der westlichen Welt, Kläger sind einfache Globalisierungsverlierer. Hört sich einerseits nach einer bestechenden Idee an, könnte andererseits aber ziemlich trockenes Brot sein. Claus Philipp schrieb im Standard eine Lobpreisung von hohem Informationswert. ShowView 3.888.690



Wer, wie ich, um Brian De Palmas Adaption von James Ellroys SCHWARZER DAHLIE einen Bogen gemacht hat, kann im WDR am Dienstag um 22.10 Uhr reinschauen. Ist ja vielleicht doch gar nicht so schlecht, wie alle sagen. ShowView 3.226.103



Am Mittwoch zeigt arte dann um 22.45 Uhr eine spanische Komödie über ein spießiges Pärchen, das es in den 70ern zu Ruhm als Softpornodarsteller in Dänemark bringt. TORREMOLINOS 73 soll angeblich wirklich komisch sein. Na mal schauen. ShowView 851.475



Ebenfalls am Mittwoch zeigt
Tele5 erstmals THE CALL, den Telefonhorrorfilm von Vielfilmer Takashi Miike von 2004. Soll um Klassen besser sein als das Hollywood-Remake. Um 22.55 Uhr, ShowView 8.259.340



Später in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag läuft im
Ersten um 00.35 Uhr Teil 2 der in jeder Hinsicht bemerkenswerten Rachetrilogie von Chan-Wook Park: OLDBOY. Wahrscheinlich der brutalste Film, der je eine Auszeichnung in Cannes erhalten hat. ShowView 3.006.418



Und wie immer gibt es außerdem noch jede Menge weitere sehenswerte Filme, vielleicht mag diese Woche beispielsweise jemand wieder mal De Palmas SCARFACE-Remake im WDR sehen. Oder Don Siegels TELEFON auf Tele5. Oder die berühmte GLÖCKNER -VON-NOTRE-DAME-Verfilmung von 1923, stumm natürlich, mit Lon Chaney, auf arte. Oder Kurosawas RAN. Wer suchet, der findet.



Kinos, Folge 43: Das Delphi in Berlin-Weißensee

Geschlossen schon seit 1959, ein prachtvolles Vorstadtkino aus den 20ern mit Orchestergraben und damals Platz für 900 Zuschauer, das jahrzehntelang im Dornröschenschlaf lag und bis jetzt noch nicht wachgeküsst wurde. In der Gustav-Adolf-Straße 2, schräg gegenüber der Brotfabrik.


Eine Googleabfrage, die letzte Woche jemanden auf diese Seiten führte: "fesselungsspiele".

2 Kommentare:

  1. Anstelle der Filmplakate erscheint bei mir nur der Hinweis "No hotlinking please MoviePoster.DB", Ist auch bei den älteren Posts so.

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  2. Danke für den Hinweis. Schade, jetzt ist Schluss mit dem bequemen Weg. Wird sofort repariert.

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