Klassenraum und Wiedervereinigung

"It’s a beauty".

Sagt der große Elmore Leonard über GOMORRHA, der nicht auf der Shortlist für den Auslandsoscar gelandet ist. (Dafür aber der BAADER-MEINHOF-KOMPLEX. Ogottogott.)



Woche 3/2009 (15.1. - 21.1.)

Die Neustarts:





Ein ungewöhnlicher Gewinner der goldenen Palme: Kein Drama, keine Stars oder auch nur namhafte Schauspieler, dafür aber eine Erzählform, die so realistisch ist, dass ahnungslose Zuschauer DIE KLASSE fast für eine Dokumentation halten könnten.
Erzählt wird von den Nöten eines Lehrers an einer Schule in einem Pariser Vorort, gespielt wird er von François Bégaudeau, auf dessen eigenen Erfahrungen, die er zuvor als Buch verarbeitet hat, das Ganze auch beruht.
Man könnte befürchten, dass es sich hier um ein supersprödes und knochentrockenes Traktat handelt, das das Modethema "Bildungsprobleme von Kindern mit Migrationshintergrund" für Zeit-Leser aufbereitet, doch scheint das keineswegs der Fall zu sein:
"DIE KLASSE hinterfragt ziemlich viel von dem, was Kino ausmacht (Illusion, Fiktion, das Diktat schöner Bilder, was weiß ich): Fast die ganze Zeit spielt der Film im überfüllten Klassenzimmer, erzählt wird ein ganz normales Schuljahr mit seinen Enttäuschungen, Auseinandersetzungen, Problemfeldern und vor allem - Alltag. Der Film ist aber ein berauschender rasender Fluss und dabei wundersam poetisch. Ungerechtigkeiten, die nicht behoben, Unklarheiten, die nicht aufgeklärt werden oder Traurigkeit, die nicht in einem Happy End aufgeweicht wird (ein Happy End wovon auch - vom Leben?)", schreibt Angelika Reitzer im Standard.
Sieht nach einem sehr ungewöhnlichen und ungewöhnlich gelungenen Film aus, der ein viel größeres Publikum verdient hätte, als er bei uns im Passage, Zeise und im Abaton erreichen wird. Hier wieder die weiteren Städte. Hoffentlich geht nicht die ganze Anmutung mit der Synchronisation verloren. Bei uns in der Kinoprovinz zeigt schon seit Jahren keiner mehr OmU-Fassungen von französischen Filmen, wer in Bochum, Frankfurt, Köln, München oder Berlin wohnt, hat da mehr Glück.




"Wie ausdauernd und konsequent muss man einen Schriftsteller loben, um die Öffentlichkeit irgendwann doch auf ihn aufmerksam zu machen? Womöglich schon zu dessen Lebzeiten, vielleicht aber auch erst postum? Warum gelingt das zuweilen, aber viel häufiger eben auch nicht, und was bleibt dann von einem literarischen Werk, wenn es in den Buchhandlungen nicht mehr geführt wird und allenfalls noch beim Stöbern in Secondhandläden aufzufinden ist?

Stewart O'Nan hat solche Fragen 1999 in der 'Boston Review' am Beispiel von Richard Yates gestellt, der sieben Jahre zuvor verstorben war. Leise seufzend hat er Yates' sieben Romane und zahlreiche Kurzgeschichten gewürdigt und am Ende doch nur einen einzigen Trost gefunden: Wenn niemand sonst, dann werden eben all jene nachgeborenen Schriftsteller, die Yates schätzen und ihm auch manches verdanken - und dazu zählen so unterschiedliche Temperamente wie Richard Ford oder Michael Chabon -, sein Werk im Gedächtnis behalten.

Kann man also über Richard Yates tatsächlich nicht anders als über einen zu Unrecht Vergessenen schreiben?"

Michael Schmitt hat diese Frage 2006 in der Neuen Zürcher gestellt und anschließend zu bedenken gegeben, dass Yates' Bücher allerdings in den USA wiederaufgelegt werden und zum Teil erstmals auch in deutscher Übersetzung verfügbar sind.
Ich hatte davon gar nichts mitgekriegt, den Namen noch nie gehört, bis jetzt in den Kritiken der Verfilmung seines Debüts Richard Yates so selbstverständlich und beiläufig genannt wurde, als wenn es um John Updike oder Philip Roth ginge. "Revolutionary Road" heißt der Roman im Original wie auch die Adaption, beim deutschen Titel von Vorlage wie Filmversion geht die Ironie und Doppeldeutigkeit aber leider flöten: ZEITEN DES AUFRUHRS heißt es bei uns.

Erzählt wird von einem Ehepaar, das in der "Revolutionary Road" in einem spießigen Vorort in den Fünfzigern viele Ambitionen hat, aber alles andere als einen Aufruhr oder Aufbruch hinbekommt: Nur öden Alltag, Laienspiel und schäbige Affären. Das soll alles sehr genau beobachtet, ja geradezu sezierend aufbereitet sein in einem Stil, der offenbar auch Jonathan Franzens "Korrekturen" beeinflusst hat.

Ein Amazonrezensent schrieb vor zweieinhalb Jahren: "Das Buch erinnert mich irgendwie an den Film AMERICAN BEAUTY, auch wenn das Buch nicht so plakativ und überdreht die amerikanischen Vorstädte schildert, aber der Kernkonflikt ist der Gleiche." Scheint noch mehr Leuten so gegangen zu sein, vielleicht auch Sam Mendes, dem Regisseur von AMERICAN BEAUTY selber, jedenfalls hat er jetzt auch Regie geführt bei ZEITEN DES AUFRUHRS.
Leider scheint er aber kein sonderlich glückliches Händchen oder Köpfchen gehabt zu haben, der Film kann offenbar weder dem Vergleich mit der Vorlage, noch jenem mit AMERICAN BEAUTY standhalten.
"Wenn sie auf ihre eigenen enttäuschten Hoffnungen und Träume krachen und in die Falle eines komfortablen, angenehmen Lebens gehen, fragt man sich, ob man auch weiter zugucken würde, wären da nicht Leonardo DiCaprio und Kate Winslet. Der Film zieht einen nie in ihren Sommer der Unzufriedenheit. ZEITEN DES AUFRUHRS ist nicht nur eine gescheiterte Literaturverfilmung. Es ist ein Scheitern der schlimmsten Art: Man bekommt noch nicht einmal Lust, das verdientermaßen legendäre Buch von Richard Yates zu lesen", schreibt Michael Stragow in der Baltimore Sun.
Das Risiko will ich nicht eingehen, klingt doch alles, was man über den Roman so lesen kann, außerordentlich vielversprechend. Ich gehe also nicht ins Kino, habe mir aber eben das Buch bestellt. Zur Auswahl standen vier (!) verschiedene deutsche Ausgaben, am günstigsten und schönsten ist allerdings die amerikanische Paperbackversion.
Wer eh nicht liest, braucht den Film nicht zu meiden: Richtig schlimm wird´s schon nicht sein, nur vielleicht etwas zu nostalgisch, gediegen und ein klein wenig langweilig; das Tomatometer zeigt aber immerhin 67% an; die imdb-Note ist 7,9.
ZEITEN DES AUFRUHRS läuft im Cinemaxx, Cinemaxx Harburg, UCI Othmarschen und im UCI Mundsburg. Und hier andernorts.



Außerdem neu:



Da ist sie, die vollkommen unvermeidbare Verfilmung des ersten Romans der extrem erfolgreichen Märchenvampirkitschserie von Stephenie Meyer. Da kommt man als Erwachsener und gar als Mann ohnehin nicht drauf, sich das anzugucken, aber auch den zwölfjährigen Mädchen würde man Besseres gönnen, als diesen verklemmten Blutromantikmist. Ob die Vorlage übertroffen oder noch unterboten wird, weiß ich nicht und will´s auch nicht wissen. Denis Scheck, der regelmäßig die Bestsellerliste kommentiert, musste sich den Büchern schon öfters widmen.

Letzte Woche: " 'Die Zeit vergeht. Selbst wenn das Ticken jeder Sekunde schmerzt wie das pochende Blut hinter einer Prellung', schreibt Stephenie Meyer auf Seite 99 ihrer ersten Fortsetzung der Liebesgeschichte zwischen einem sehr prüden Mädchen namens Bella und einem sehr skrupulösen Vampir namens Edward. Ticken Sekunden? Schmerzt Blut? Und schmerzt Blut hinter einer Prellung? So schief wie die Bilder Meyers ist die Konstruktion ihres albernen Romans. Deshalb vergeht die Zeit über diesem Buch sehr, sehr langsam. Und das schmerzt."

Im September 2008: "Hin- und hergerissen zwischen ihrer Zuneigung zu einem Vampir und zu einem Werwolf verhält sich die ebenso bildschöne wie entscheidungsschwache Heldin dieses Jugendbuchs wie Buridans Esel zwischen den beiden Heuhaufen und macht 500 Seiten lang gar nichts – außer schmachtende Blicke zu werfen. Deshalb teilt Stephenie Meyers dröger Roman 'Biss zur Mittagsstunde' mit seinem Vampir-Protagonisten vor allem eins: die Blutleere."

Im April 2008: "Wie die meisten Unternehmungen, bei denen der Austausch von Körperflüssigkeiten im Mittelpunkt steht, geht es auch in Vampirromanen in erster Linie um Sex. Die Mormonin Meyer hat nun den vegetarischen Vampirroman erfunden: Ihr Held saugt statt Menschen wilden Tieren ihr Blut aus. Folglich handelt ihr Roman auch nicht von Sex, sondern von Händchenhalten und einem Mädchen namens Bella, das sich auf über 600 Seiten zwischen einem wahnsinnig gutaussehenden Vampir und einem attraktiven Werwolf entscheiden muss. Erst jetzt weiß ich, was Horror bedeutet!"

Wer hofft, dass die Adaption trotzdem sehenswert sein könnte, geht in irgendein Multiplex, TWILIGHT - BISS ZUM MORGENGRAUEN läuft überall.




Und: SAW V. Das ist noch gar nichts: FREITAG DER DREIZEHNTE hatte 9 Sequels. (Das dritte hatte den Untertitel "Das letzte Kapitel") Der Titel der Serie garantiert kübelweise Blut; da kann das Zielpublikum nichts falsch machen, landet nicht etwa versehentlich in einem skandinavischen Adoleszenzdrama. Weiß der Teufel was das für ein krankes Bedürfnis ist, das von solcher Kost, die nur genau einem Anspruch genügt, befriedigt wird. Und was es bedeutet, wenn das ein Massenphänomen ist: SAW V läuft bei uns in sämtlichen Multiplexen. Und hier andernorts.




Und: Christoph Schlingensief hat 2007 Pilotsendungen für eine TV-Talk-Sendung produziert, die nie auf Sendung gehen sollte, aber dennoch zahlreiche prominente Gäste hatte. Für arte entstand eine Dokumentation des Unternehmens, die obskurerweise jetzt in die Kinos kommt. Eine Fernsehsendung über eine Fernsehsendung gehört doch eigentlich ins Fernsehen, sollte man meinen. Für Schlingensiefs unentwegtes eitles Affentheater, das auch persönlichste schwere Schicksalsschläge dem geneigten Publikum vorführt, interessiere ich mich nicht die Bohne, aber im Feuilleton gewinnt man den Eindruck, er sei der einzig wahre deutsche Großkünstler. In jedem Fall hat er eine beachtliche Karriere hingelegt, vom Regisseur von lustigem Trash wie MENU TOTAL mit Helge Schneider als Hitler bis auf den Bayreuther Grünen Hügel. Zwanzig Jahre hat er dafür gebraucht.
DIE PILOTEN wird wohl eine ganz unterhaltsame Fernsehkritik sein; ich werde drauf hinweisen, wenn sie von arte ausgestrahlt wird. Jetzt läuft der Film im 3001; andernorts ist er schon im letzten Jahr gestartet, hier läuft er noch.



Wöchentliche Provinzialitätsmessung:

Anderswo startet diese Woche außerdem Lars von Triers Komödie THE BOSS OF IT ALL, IHR NAME IST SABINE von Sandrine Bonnaire, DIE VERBORGENE WELT, der von der indischen (!) Minderheit während der Apartheid in Südafrika erzählt, TEUFELSWERK aus der Türkei, eine deutsche Doku über Magersucht mit dem Titel DIE DÜNNEN MÄDCHEN und CHANDNI CHOWK DI CHINA, ein Hollywood-Bollywood-Mix mit Kung-Fu-Einlagen auf der chinesischen Mauer. Bei uns laufen also gerade mal 40% aller neuen Filme an. In Berlin sind sie, wie immer, alle zu sehen.



Weiterhin:



SO FINSTER DIE NACHT immer noch spät im 3001 und spät im UCI Othmarschen. Scheint sich rumzusprechen, dass das was Besonderes ist. Und hier überall.

TRANSSIBERIAN jetzt nochmal im Magazin, die letzte Chance. Außerdem noch in diesen Städten.

DIE PERLMUTTERFARBE jetzt, in der zweiten Woche, nur noch nachmittags im Blankeneser. Scheint doch etws zu bairisch für uns im Norden zu sein. Und in diesen Städten.

JERICHOW im Holi und im 3001. Und hier andernorts.

O´HORTEN im Abaton und im Zeise. Und hier.

ALTER UND SCHÖNHEIT im Passage, im Abaton und im Koralle. Und hier.

VICKY CRISTINA BARCELONA im Abaton OmU, außerdem im Zeise, Holi, Blankeneser, Alabama, UCI Mundsburg und am Montag auch mal südlich der Elbe im Cinemaxx Harburg. Und hier ansonsten.

WALTZ WITH BASHIR nur noch in Sonntagsmatineen im Zeise und im Abaton. Und hier auch noch.



Außer der Reihe:



Das B-Movie zeigt Andreas Dresens skurrilen Dokumentarfilm über Wahlkampf in der brandenburgischen Provinz: HERR WICHMANN VON DER CDU. Herr Wichmann hat es übrigens immer noch nicht in den Bundestag geschafft, aber wenigstens in den Kreistag von Templin/Lychen/Boitzenburg. Dresens Film habe er "mehr als 70mal gesehen", sagte er dem Stern im Interview. Der kann was aushalten.

Im Metropolis: Weiter geht's mit Lynch und Lubitsch, außerdem gibt es mal wieder den Lieblingsfilm von Denis Scheck auf der großen Leinwand zu sehen. Und die neue Reihe "Zweite Heimat" über die Einwandererstadt Hamburg wird gestartet, unter anderem mit einem Dokumentarfilm von Fatih Akin über seine eigene Familie: WIR HABEN VERGESSEN ZURÜCKZUKEHREN.



Dies und das:



Gut, in Berlin läuft immer alles im Kino, hier aber nicht, wie ich Woche für Woche akribisch festhalte. Aber dann haben die in der Stadt auch noch einen DVD-Verleih, wie es ihn zumindest hierzulande nur einmal gibt, mit einem unfassbar großen Sortiment, das von einem offenbar leidenschaftlich suchenden und sammelnden Team unentwegt auch durch internationale Ankäufe erweitert wird. Im Videodrom in der Mittenwalder Straße in Kreuzberg findet man, wenn man etwa nach Filmen von Wes Anderson sucht, nicht nur alles, was hierzulande veröffentlicht wurde, sondern auch das (überaus komische) Debüt BOTTLE ROCKET im Regal. Für die Ghibli-Filme gibt es einen Ordner, da entdeckt man nicht nur sämtliche Filme des Studios, sondern auch japanische DVDs von Filmen, die Hayao Miyazaki und Isao Takahata vor der Ghibli-Ära gemacht haben. Und so ist es, ganz gleich in welcher Richtung man zu stöbern beginnt. Überall weisen mit Edding geschriebene kleine Schildchen auf die eine oder andere obskure Kostbarkeit hin, von der man noch nie zuvor gehört hatte.
Im Gegensatz zu öffentlichen Filmbibliotheken ist immer sehr viel vorrätig. Wenn man abends plötzlich auf die Idee kommt, jetzt mal endlich anzufangen, die Kieslowskischen Dekalogfilme anzuschauen, kann man einfach hingehen und sich einen holen. Oder auch alle zehn, falls man Glück und sich viel vorgenommen hat.
Momentan nähert sich die DVD-Titelzahl der Zwanzigtausender-Marke und falls doch irgendetwas nicht dabei sein sollte, besteht immer noch die Chance, dass es den gesuchten Film noch im VHS-Bestand gibt. Denn die knapp 18.000 Kassetten, die seit 1989 angeschafft wurden, sind auch noch ausleihbar. Dass, wer immer hinterm Tresen steht, auch über weitreichende Kenntnisse der Filmgeschichte verfügt und bestens gerüstet ist, auch unqualifizierte Anfragen zu beantworten, ist bei all dem fast schon selbstverständlich.
Und nett sind sie auch noch.

Es ist einfach nicht fair.

Aber wenn ich Leute kennen sollte, die ein Franchise in Hamburg aufmachen wollen, dann stehen sie zu Verhandlungen bereit, habe ich mir sagen lassen. Na, hat jemand Interesse? Ein Videodrom am Schulterblatt?



Umsonst und zuhause:


Am Samstag:

Es ist schwer zu entscheiden, aber vielleicht ist dies der schönste von Hayao Miyazakis wundersamen Trickfilmen. Die zehnjährige Hauptfigur gerät in dieser Alice-im-Wunderland-Geschichte in eine Welt, die von höchst seltsamen und originellen Gestalten bevölkert ist. Da fast alle Charaktere zwischen Bedroh- und Freundlichkeit changieren und man ohnehin keine Ahnung hat, was als nächstes kommt, ist die Geschichte, trotz Verständlichkeit auch für ein junges Publikum, kein bisschen vorhersehbar. So macht Fantasy Spaß, trotz Drachen, Hexen und der obligatorischen Ökobotschaft. CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND, leider mit Werbeunterbrechungen, auf Super RTL um 20.15 Uhr, ShowView 81.185.843



Auch am Samstag:

Ein schöner altmodischer Thriller, von einem, der hier sein Handwerkszeug sicher beherrscht, Wes Craven, gedreht 2005. Über den Wolken kann die Bedrohung grenzenlos sein, jedenfalls wenn man den falschen Sitznachbarn hat. RED EYE im Ersten um 22:10 Uhr, ShowView 34.515.475


Am Sonntag:

Ein Thriller von Sydney Lumet mit einem Paul Newman, der hier großartig einen auf den Hund gekommenen Anwalt spielt. Mit Justizdramen kann man mich gemeinhin jagen, aber in diesem Fall verlässt sowohl die Kamera als auch die Geschichte erfreulicherweise häufig die Enge des Gerichtssaals. Mal was Gutes aus den frühen Achtzigern. THE VERDICT, auf arte um 20:15 Uhr, ShowView 3.953.944


Auch am Sonntag:

Eine beachtliche Dokumentation über die Reitermilizen im Sudan, von 2007, aus den USA. Mit Aufnahmen eines US-Miltärbeobachters, wie man sie sonst nie zu sehen bekommen hat. Geschildert wird auch der Kampf dieses Mannes für mehr Aufmerksamkeit in der amerikanischen Öffentlichkeit. Keine leichte Kost. DIE TODESREITER VON DARFUR, im BR um 23:15 Uhr, ShowView 6.282.505


Auch am Sonntag:

Ein Film von Claude Chabrol, der selten gezeigt wird und ein wenig aus der Reihe fällt: Gedreht wurde in Kanada, in englischer Sprache, mit Donald Sutherland in der Hauptrolle. Ein Police Procedural nach einem Roman vom großen Meister des Genres, Ed McBain. Die deutsche Ausgabe der Vorlage, ein Band aus der berühmten Serie um das 87. Polizeirevier, sah so aus. Auch trashig, aber doch viel besser als das abstoßende Plakat. Ein anderer sehr berühmter Regisseur hat sich übrigens auch mal einen Band der Reihe vorgenommen: Akira Kurosawa. BLUTSVERWANDTE im MDR um 00:30 Uhr, ShowView 9.028.093


Am Montag:

Das Debüt von Robert Thalheim: Die Geschichte eines Fünfzehnjährigen, der, als seine Mutter mit ihrem Freund zusammenzieht, sich seines Vaters erinnert, der zunächst wenig erfreut über die Perspektive ist, seine Wohnung mit dem Sohn zu teilen. Wurde viel gelobt für seinen glaubwürdigen Ton und Realismus und hat dank Milan Peschel als arbeitslosem Vater sicher auch recht komische Momente. Und NETTO sieht im Fernsehen viel besser aus, als auf der Leinwand, wurde er doch auf Mini-DV gedreht in einer Auflösung, die im Kino zu Augenschmerzen führt. Im ZDF um 00:00 Uhr, ShowView 7.566.556


Am Dienstag:

Ein Kostümfilm von der notorischen Catherine Breillat, die sich seit mehr als drei Jahrzehnten in ihren Filmen und Büchern im Wesentlichen mit Sex beschäftigt. Das Drama von 2007 mit Asia Argento um Ehe und Mätressen im Frankreich des 19. Jahrhundert scheint eher leichtgewichtig und weniger verstörend zu sein, als andere ihrer Filme. Das Erste zeigt DIE LETZTE MÄTRESSE um 22:55 Uhr in deutscher Erstaufführung, ungekürzt. In Singapur darf man den Film erst mit 21 sehen. Hier ein Interview bei Bright Lights mit der Regisseurin (englisch). ShowView 3.025.594



Auch am Dienstag:

DER RICHTER, ein dänischer Film über einen Mann, der aus der Bahn geworfen wird. Er hat Probleme im Beruf, nachdem er einen Asylantrag abgelehnt hat, woraufhin der Abzuschiebende sich mit Benzin übergießt und anzündet. Und er hat Probleme, weil sein Sohn Kontakt zu ihm aufnimmt. 15 Jahre lang hat er ihn nicht gesehen. Vielleicht richtig gut, vielleicht auch nicht. Im Netz ist nicht viel rauszufinden, der Film war nur in Dänemark in den Kinos. Um 23:00 Uhr auf N3, ShowView 956.952


Auch am Mittwoch:

Der nächste Teil der Trilogie von Lucas Belvaux, hier ein Interview mit ihm, in dem es um das ungewöhnliche Projekt geht. AUF DER FLUCHT im BR um 23:45, ShowView 2.840.082


Auch am Mittwoch:

Ein kleiner Film, der letztes Jahr im Kino ziemlich untergegangen ist, mit Burghart Klaußner, dem Entführungsopfer aus den FETTEN JAHREN in der Hauptrolle. Er gibt einen Angestellten der deutschen Botschaft in Tiflis, dessen ödes Leben von einem Straßenkind durcheinandergebracht wird. Die Handlung wird bestimmt durch den Verdacht auf sexuellen Missbrauch, gegen den sich die Klaußner-Figur wehren muss. Dem Film wurde vorgeworfen, er sei langweilig; es spricht aber einiges dafür, dass manche eine ruhig, genau und unspektakulär erzählte Geschichte einfach nicht mehr aushalten. Auf arte um 23:25 Uhr zum ersten Mal im Fernsehen, ShowView 5.471.044


Wie immer gibt es außerdem noch viele weitere sehenswerte und wohlbekannte Filme im Programm, beispielsweise Woody Allens MANHATTAN MURDER MYSTERY, WESTWORLD, BOYS DON'T CRY, DER UNTERTAN, DER FLUG DES PHOENIX und Terry Gilliams 12 MONKEYS. Wer suchet, der findet.



Kinos, Folge 57: Das Neue Cinema in Hamburg-St. Georg


Die Fassade meines einstigen Hamburger Lieblingskinos war nie toll, und der Kinoeingang wurde in den Siebzigern irgendwann unschön umgestaltet, aber drinnen verbirgt sich ein toller asymmetrischer Saal mit einem geschwungenen Balkon, der, trotz aller Renovierungen, noch den Charme der fünfziger Jahre ausstrahlt. Seine größte Zeit hatte das Kino, als rundherum der ganze Steindamm schon lange zum Drogenstrich runtergekommen war, in den Achtzigern und Neunzigern. 1983 hat Hans-Joachim Flebbe das Haus übernommen und von Anbeginn ein sperrigeres Programm gemacht als in seinen anderen Häusern. Ich habe hier Spike Lees SHE'S GOTTA HAVE IT und Pedro Almodovars DAS GESETZ DER BEGIERDE gesehen, Akira Kurosawas RAN, Christoph Schlingensiefs DEUTSCHES KETTENSÄGENMASSAKER und David Lynchs BLUE VELVET, und so ging es immer weiter mit der besten Filmauswahl in der Stadt, aber immer weniger Publikum bis zur geräuscharmen Schließung im Jahr 2000. Anschließend nutzte das Schauspielhaus den Saal als zusätzlichen Veranstaltungsort, inzwischen ist das Polittbüro, die Kabarettbühne von Herrchens Frauchen, hier beheimatet. Seltsamerweise haben beide neuen Nutzer den Namen Neues Cinema weiterbenutzt; er steht auch immer noch auf der Leuchttafel; weit darüber an der Fassade ist auch noch, ziemlich zugekotet, der alte orangene Schriftzug aus den Siebzigern übriggelieben, als das Cinema noch nicht neu war.


Saal und Bestuhlungsplan in den Fünfzigern, Quelle: Film- und Fernsehmuseum in Hamburg

Jan Distelmeyer, Filmkritiker und -wissenschaftler – und, ja, Bruder von Jochen – hatte anlässlich der letzten Vorstellungen ein Klagelied in der taz veröffentlicht:

"'Ich hätt' gern ein Warsteiner.' 'Tut mir leid, wir haben nur Ratsherrn und Einbecker Urbock.' 'Gut, dann nehm ich 'nen Becks.' Wie viele Dialoge diesen Zuschnitts ich am Tresen des Neuen Cinema habe erleben dürfen, kann ich unmöglich genau sagen. Ich weiß nur, dass mir in den fast sieben Jahren, in denen ich in diesem Kino an der Bar und an der Kasse gearbeitet habe, so ziemlich jede Kommunikationsstörung begegnete, die irgendwie mit Kino vereinbar ist. Höhepunkt: 'Das Eis ist zu kalt!' Schön war auch, wenn ausgewiesene Studenten (2,-- DM Ermäßigung, Wochenende und Kinotage ausgenommen) auch nach der dritten Beteuerung, die Sitze im Kino seien nun einmal nicht nummeriert ('Frei Platzwahl!'), den Kampf um gute Sicht und das Recht auf stumpfe Ignoranz nicht aufgaben: 'Dann nehmen wir zwei schöne Plätze, so fünfte Reihe Mitte'.
In gewisser Weise war das Neue Cinema genau das, was man sich unter einem altmodischen Kino vorstellt: Nur drei Vorstellungen am Tag, ein kleines Foyer mit Bar, ausgelagertes Kassenhäuschen, keine Popcornmaschine, keine frisch aufgewärmten Nacho-Käsesoßen und keine Computerkasse. Dazu ein wunderschöner, in sich geschwungener Kinosaal mit einer kleinen Empore, deren erste Reihe vor allem vom Stammpublikum frequentiert wurde. Nur die Lage am Steindamm 45, zwischen Straßenprostitution und Scientology schien alle selbsternannten Cinephilen dieser Stadt ('Also, das ist wirklich eines der schönsten Kinos in ganz Hamburg!') von einem regelmäßigen Besuch abzuhalten. Einzig ein Teil der Schwulenszene von St.Georg hielt dem Kino die Treue, was aber leider auch nicht verhindern konnte, dass ausverkaufte Vorstellungen die Ausnahme blieben. Möglicherweise wird das Neue Cinema als das Kino mit dem meisten Lob und den schlechtesten Besucherzahlen in die Hamburger Filmgeschichte eingehen.
Schon morgen könnte darüber entschieden werden, denn heute abend wird das Neue Cinema seine letzten Vorstellungen zeigen. LIKE IT IS steht auf dem Programm, immerhin ein Titel, der die Lakonie eines solchen Abschieds, der ohne Ansprache, Umtrunk und Häppchen auskommen muss, recht gut wiedergibt. Sechzehn Jahre nachdem die Flebbe-Kinotheaterbetriebe das in der Nachkriegszeit eröffnete Kino übernommen hatten, fällt der letzte Vorhang. 'Zu wenig Besucher' lautet die Begründung. Seit Jahren? Spätestens mit der Errichtung des Cinemaxx hatte ein Teil der Belegschaft die Schließung befürchtet. Allen voran der 1995 verstorbene Filmvorführer Uwe Schulz, die Seele des Kinos, der nicht nur für mich mit dem Bild dieses Kinos für immer verbunden bleibt.
Grund genug also, hier mit ganz persönlicher Trauer von diesem Kino Abschied zu nehmen. Weil die Schließung des Neuen Cinema ein symptomatischer Verlust der Kinolandschaft auf dem Weg in die Multiplex-Diktatur ist, und weil mich knappe sieben Jahre mit ihm verbinden. In dieser Zeit habe ich die Liebe meines Lebens gefunden, Arminia Bielefeld ist nach grauenhaften sieben Jahren im Darm des Amateurfußballs in die Bundesliga zurückgekehrt, und meine Beziehung zum Kino hat ein neues Fundament erhalten.
Gut möglich, dass dem Sterben der kleinen Häuser und den Neubauten so unfreundlicher Schuppen wie dem UCI-Kinocenter an der Autobahnauffahrt Othmarschen, in Zukunft noch einmal der Trend zu privateren Kinos mit einer anderen Atmosphäre und mit anderen Filmen folgen wird. Es fragt sich nur, ob es bis zu diesem Zeitpunkt noch jene Spielstätten geben wird, denen sich dereinst ein junges, neues Publikum zuwenden könnte. Und das ist nicht zuletzt eine Frage, deren Antwort wir als Kinogänger selbst beeinflussen können. Was auch immer in den Räumen des Neuen Cinemas in Zukunft Platz finden wird: Für alle Besucher und Mitarbeiter geht hier eine ganz eigene Ära zu Ende. Wer jemals von Uwe am Einlass angepflaumt worden ist ('Na, wohl nicht!'), Thomas im Foyer hat tänzeln sehen oder als einziger Gast an einem unspektakulären Montag die Spätvorstellung genossen hat, weiß, wovon ich rede."



Eine Googleabfrage, die letzte Woche jemanden aus Fellbach auf diese Seiten führte: "dr sommer kussübungen".


1 Kommentar:

  1. Jetzt habe ich es nach langen Monaten endlich mal wieder ins Kino geschafft, will brav einen Kommentar zum gesehenen Film - "Vicky Cristina Barcelona" – abgeben - und muss nun feststellen, dass der Herr der Kinoprovinz nicht nur mal wieder mit seinen Vorurteilen genau richtig lag, sondern dass er nach Anschauen des Werkes auch noch eine ebenso treffende Kurzbewertung abgegeben hat ("Klischees bis zum Abwinken, auf allen Ebenen und dabei seltsamerweise trotzdem ein großes Vergnügen.") Dem habe ich leider nichts Wesentliches hinzuzufügen.

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