Elendsviertelhundemillionär

"Weil es so umständlich und stressig war, an den Drehort zu kommen, hat mir keiner der Geldgeber in meine Arbeit gequatscht".

Danny Boyle über die Vorteile, die es hat, in indischen Slums zu drehen.


Woche 12/2009 (19.3. - 25.3.)

Die Neustarts:


Danny Boyle hat uns einige schöne und sehr unterschiedliche Filme beschert: Unter anderem TRAINSPOTTING, A LIFE LESS ORDINARY und 28 DAYS LATER. Sein jüngster Film über den Jungen aus den Slums von Bombay (das seit den Anschlägen im November plötzlich und seltsamerweise auch bei uns in den Medien nur noch Mumbai genannt wird), dessen Mitspielen bei der indischen Ausgabe von "Wer wird Millionär?" sein Leben verändert, wurde überraschend ein riesiger Erfolg, der sogar gerade an allen Hollywood-Großproduktionen vorbei die meisten Oscars eingesammelt hat, ein Erfolg, genauso märchenhaft wie die Geschichte, die der Film erzählt. Der übrigens wirklich gut zu sein scheint.

Viel wurde drüber geschrieben, dass es in Indien Proteste gegen den Film gab; da kam bei manchen die Darstellung des armen Indien gar nicht gut an. Auf den indischen Plakaten fehlt als Folge das Wort "Slumdog", da heißt der Film nur "The Millionaire". Ist halt auch lange her, dass die dortige Filmindustrie sich mit realistischeren oder gar sozialen Themen beschäftigt hat. BOOT POLISH von 1954, ein großartiges Melodram über zwei kleine Geschwister, die versuchen, sich mit Arbeit statt mit Bettelei durchzuschlagen, zeigt auch schon geradezu pittoreske Slums, in denen selbstverständlich auch prächtig gesungen und getanzt wird. Zu der Zeit gab es eine richtige Welle von indischen Filmen, die deutlich vom italienischen Neorealismus beeinflusst waren und es teilweise sogar in die DDR-Kinos geschafft hatten. Nur dass die vermeintlich überflüssigen Gesang-und-Tanz-Szenen sorgfältig raus geschnitten wurden. Und gegen Mira Nairs SALAAM BOMBAY von 1988, dem man den Vorwurf des "Poverty Porn" sicher noch eher machen müsste, hagelte es damals keine Proteste.

Nick Hornby hat in seinem Blog darauf hingewiesen, dass der Vorwurf, der Film sei ein kühl kalkulierter und spekulativer Mix von Elend und Aufstieg, Exotik und Kindern, nur deshalb aufkomme, weil der Film nun wider Erwarten ein großer Erfolg geworden ist:

"... niemand, nicht Christian Coulson, der Produzent oder Danny Boyle oder andere, die an der Produktion beteiligt waren, dachten, dass sie mit diesem Film Geld machen könnten. Ein Film ganz ohne Stars, bei dem ein Drittel auf Hindi und darum teilweise untertitelt ist? Klappt jedes Mal! Eine Lizenz zum Gelddrucken! Natürlich hofften Coulson und Boyle, dass sie bezahlt würden, ein nachvollziehbares Ansinnen, ist Filmemachen doch schließlich ihr Beruf; aber – und das wurde gut dokumentiert – es gab ernstzunehmende Zweifel daran, ob der Film je in einem Kino zu sehen sein würde."

SLUMDOG MILLIONAIRE läuft bei uns im Streits OF, im Abaton OmU und in deutscher Fassung im Zeise, Cinemaxx, Cinemaxx Harburg, UCI Mundsburg und UCI Wandsbek. Die Kinos andernorts hier. Ich rate sehr zu der untertitelten oder der Originalfassung: Wenn die Darsteller im Original Hindi und Englisch mit indischem Akzent sprechen, ist bei der deutschen Synchronfassung überall ein gleichermaßen klinisch reines Hochdeutsch zu erwarten. Das kann den ganzen Film kaputtmachen. Oder sollten etwa indischstämmige deutsche Sprecher eingesetzt worden sein, die zwischen Hindi und Deutsch mit Akzent wechseln? Toll wäre das auch nicht, aber doch ein kleines Wunder.


Außerdem neu:



Über den neuen Film von Guy Ritchie hat der offenbar sehr kompetente Paul Byrnes im Sydney Morning Herald geschrieben. Hier ein paar Auszüge:

"Fast alle Londoner Gangsterfilme seit 1980 haben John Mackenzies THE LONG GOOD FRIDAY ('Rififi am Karfreitag') viel zu verdanken, aber einige mehr als andere. In seinem dritten Ausflug in die Londoner Unterwelt nach LOCK, STOCK AND TWO SMOKING BARRELS ('Bube, Dame, König, Gras') und SNATCH, hat sich Guy Ritchie so kräftig bei TLGF bedient, dass ich schon erwartet habe, dass John Hoskins als Cameo auftaucht. (...)

Ritchie ersetzt Hoskins mit Tom Wilkinson, gibt ihm einen einen schwarzen Anzug im Tarantinostil und eine Sonnenbrille und folgt dann der fast identischen Vorgabe. Der Unterschied besteht darin, wieviel er reinpackt. Die Handlung würde für drei Filme reichen; eines von Ritchies Markenzeichen. Er neigt dazu, London als wimmelndes Gehege voller Gangster und Gauner zu betrachten, die alle miteinander vernetzt sind, sie bilden in seinen Filmen eine neue Klasse außerhalb der Klassen. (...)

Das war erfrischend in seinen ersten beiden Filmen, da es einen Eindruck von der sozialen Mobilität und Komplexität des heutigen London vermittelte. Vielleicht ist es auch das einzig Einnehmende an seinem neuen Film, denn, offen gesagt, den ganzen Rest haben wir schon gesehen. Ritchie ist zu seinen alten vertrauten Plätzen zurückgekehrt, nach den Flops im Doppelpack, REVOLVER (bei uns nicht mal im Kino) und SWEPT AWAY, vielleicht hoffend, er könne da wieder anknüpfen, wo er aufgehört hatte. (...) ROCKNROLLA fühlt sich so an, als wenn Guy Ritchie seinen Lieblingsregisseur imitierte und der Guy Ritchie wäre. (...)

Es gibt genügend ausgelassene und ereignisreiche Momente, um wach zu bleiben. Ritchie hat einige originelle Einfälle für Verfolgungjagden (...), aber alles in allem ist der Film routiniert. Statt inspiriert."

Klarer Fall von: Kann man gucken. Muss aber nicht sein. Oder?

Zu diesem Film "des Kult-Regisseurs" habe ich erstmals eine persönliche Mail von einer PR-Agentur erhalten. Hätten sie mir stattdessen per Post eine DVD-Box mit Looney-Tunes-Cartoons geschickt (der Verleih ist Warner), hätte es geheißen: Muss man gucken. Mir ist nicht zu trauen.
ROCKNROLLA läuft im Cinemaxx Harburg und im UCI Othmarschen. Hier die Kinos anderswo.



Bei einem türkischen Film mit dem Titel DREI AFFEN erwartet man eine weitere unsägliche Komödie vom Bosporus, doch hat dieser Film mit der seltsamen Mainstreamware nichts zu tun; er ist von einem ganz anderen Kaliber: In Cannes lief er im Wettbewerb, und Regisseur Nuri Bilge Ceyran flog mit der goldenen Palme für die beste Regie nach Hause. 2002 hatte er schon viel internationale Aufmerksamkeit für UZAK bekommen, den Film über einen entfremdeten Fotografen im teilweise verschneiten(!) Istanbul, der dauerhaft Besuch von einem Verwandten vom Land bekommt.

In DREI AFFEN geht es um die Folgen eines Verkehrsunfalls, bei dem ein Mensch stirbt. Der Verursacher mit Macht und Ansehen lässt seinen Chauffeur die Schuld auf sich nehmen und beginnt dann auch noch ein Verhältnis mit dessen Frau. Die hat aber, genau wie der betrogene Ehemann, offenbar auch schwere Verantwortung für irgendwas zu tragen. Keine leichte Kost, ein bedeutungsschweres düsteres Melodrama.

In der Cannes-Berichterstattung bezeugten die meisten Schreiber dem Film Respekt, zeigten sich aber nicht gerade begeistert. "Jedes Bild ist bei Ceylan eine Perle. Nacheinander aufgereiht ergeben sie jedoch einen Film, der einem mit seiner Kunstfertigkeit gelegentlich zu erschlagen droht", schreibt Birgit Glombitza in der taz. Und: "Keine Nuss, keine Fliege, kein Schuh liegt herum, der nicht auf irgendeine verschnörkelte Weise die Beziehungen oder Zerrüttungen zwischen den Figuren kommentiert." Andererseits ist Ceylans Stil zurückhaltend und nüchtern, und er verzichtet erfreulicherweise darauf, alle Emotionen mit Musik zu befeuern. Man muss sich wohl selbst ein Bild machen. In Hamburg im 3001 OmU oder im Koralle. Hier die Kinos anderswo.




"Desperaux" ist ein Kinderbuch der amerikanischen Autorin Kate DiCamillo, das in einem märchen- und etwas klischeehaften alten Europa einen Mäuserich sich in eine Prinzessin verlieben lässt. Die Handlung ist recht komplex, vielleicht gar überladen und zumindest in unserem Teil Europas war dem etwas altmodisch daherkommenden Buch kein sonderlich großer Erfolg beschieden. In den USA sah das allerdings ganz anders aus, und so war auch der dazugehörige Animationsfilm nur eine Frage der Zeit.

Mir persönlich gefällt das Figurendesign und überhaupt die Optik schon der Stills nicht; das sehen die meisten Rezensenten aber ganz anders; nur schlagen die einen bei Kinderfilmen ungewöhnlich kritischen Ton aus anderen Gründen an: Der Handlung mit zahlreichen Nebensträngen sei schwer zu folgen, und da würden viel zu viele Figuren eingeführt, die für den Fortgang der Geschichte nur mindere oder keine Bedeutung hätten. Blöd kann so ein Kinderfilm sein, wie er will; das ist dann eben "kindgerecht", aber wehe, wenn der Rezensent gar gefordert wird.

Ein guter Film wird's aber dennoch nicht sein. Und in zwei Wochen wird er von MONSTERS VS. ALIENS aus den Kinos gespült. DESPEREAUX – DER TAPFERE MÄUSEHELD läuft bei uns in allen Multiplexen. Und andernorts.



Der erste Mario-Barth-Film. Muss wohl sein. MÄNNERSACHE läuft bei uns und anderswo in allen Multiplexen. Einer kritischen Leserin dieses Blogs haben die Textschnipsel von Teddy Hecht alias Richard Christian Kähler letzte Woche gar nicht gefallen; sie meinte, das sei wie von Mario Barth, jedenfalls da, wo es um Frauen ginge. Sollte das stimmen, müsste mir eigentlich dieser Film gefallen. Aber so rechthaberisch bin ich dann doch nicht, dass ich mir das zwecks Überprüfung antue.




Der zweite ???-Film, wieder mit deutschem Geld und amerikanischen Darstellern in Südafrika gedreht, schön flachgeklopft mit angestrengtem Schielen auf den internationalen Markt, was aber schon beim ersten Streich in die Hose gegangen ist, denn der Film nur in einem einzigen nicht-deutschsprachigen Land zu sehen, in Frankreich und hat wohl nicht einmal die Produktionskosten eingespielt.

Die Detektivgeschichten, ursprünglich eine amerikanische Serie, die sich Robert Arthur 1968 ausgedacht hat, waren aber auch nirgendwo sonst so erfolgreich wie bei uns. 1991 war in den USA Schluss; seitdem schreiben deutsche Autoren die Serie nach immer gleichem Muster weiter. Wenig freundlich werden die Verfilmungen vor allem von den Fans der unglaublich erfolgreichen Hörspielserie aufgenommen, auch wenn einige Sprecher Cameo-Auftritte absolviert haben. Die neue Verfilmung greift die Handlung des allerersten Buches um das vermeintliche "Gespensterschloss" auf. Und richtig, da wird viel Aufwand betrieben, um sich mit Special Effects und sonstigem Brimborium nach Harry Potter auszustrecken. Es spricht nicht viel dafür, dass der Nachfolger den Erstling qualitativ oder kommerziell überflügeln wird. Komisch, dass sie's überhaupt versuchen.
DIE DREI ??? – DAS VERFLUCHTE SCHLOSS läuft in allen Multiplexen. Hier die Kinos andernorts.



Wöchentliche Provinzialitätsmessung:


Anderswo startet wieder einmal auch nicht mehr. 100%! Sind aber auch ungewöhnlich wenige Filme diese Woche: nur sechs.



Weiterhin:


THE FALL ist wahrhaft ein Monster von einem Film. Überraschend: Das supersentimentale und märchenhafte Spektakel wird immer wieder komisch gebrochen, vor allem an den bröckelnden Rändern der phantastischen und realistischen Erzählebenen, die keineswegs glatt und sauber zusammenpassen. Und noch eine Überraschung: Die animierten Figuren einer Stop-Motion-Alptraumsequenz kommen einem irgendwie bekannt vor; und richtig: Der Abspann verrät, dass die Urheber die Brüder Lauenstein waren. Die Szene ist wie damals der oscarausgezeichnete Kurzfilm Balance (hier ist er) in Hamburg entstanden.
Beeilt Euch: Wenige Kopien, fast keine Werbung, kaum Kritiken und die Vorführung ausschließlich in Multiplexen bewirken, dass der Film gleich wieder verschwunden sein wird. Und später auf dem Fernseher wird bei mancher Totale nicht mehr viel am unteren Bildrand zu erkennen sein. Bei uns in der zweiten Woche nur noch an einigen Tagen spät im fernen UCI Wandsbek. Die Kinos anderswo hier.

DER KNOCHENMANN jetzt im Alabama. Wohl die letzte Chance. Hier läuft er noch anderswo.

THE WRESTLER frühabends im 3001 OmU, spätabends im Abaton OmU, synchronisiert noch an zwei Terminen im Cinemaxx. Hier die Kinos andernorts.

35 RUM nur noch nachmittags im 3001 und hier andernorts.

JERICHOW noch ein paar mal im Magazin und hier andernorts.

GRAN TORINO bei uns im Abaton OmU, im Streits OF, ansonsten im Holi, Zeise, in den UCI-Multiplexen und hier andernorts.

VICKY CRISTINA BARCELONA im Passage und in einer Sonntagsmatinee im Zeise. Und hier ansonsten.

BOLT in allen drei UCI-Multiplexen in 3D! Und hier andernorts.

Nicht mehr bei uns, aber noch anderswo zu sehen: REVANCHE (Kinos), SO FINSTER DIE NACHT (Kinos), DIE KLASSE (Kinos), LULU UND JIMI (Kinos), ALTER UND SCHÖNHEIT (Kinos), IT´S A FREE WORLD (Kinos), WALTZ WITH BASHIR (Kinos), O´HORTEN (Kinos), DER FREMDE SOHN (Kinos) und DIE PERLMUTTERFARBE (Kinos).



Außer der Reihe:



Das 3001 zeigt diese Woche im Spätprogramm von Donnerstag bis Samstag einen Film, den bestimmt bald mal jemand hier als seinen Lieblingsfilm vorstellt: Terry Gilliams BRAZIL. Wer ihn nicht kennt oder sich nicht mehr so genau erinnert, sollte die Chance nutzen: Macht ordentlich was her auf der großen Leinwand. Ein Zitat aus dem überdrehten, bombastischen, rasend komischen Endzeitdrama habe ich gerade erst gestern im Gespräch mit einem Mitarbeiter der Support-Hotline des Herstellers unseres DSL-Routers angebracht: "Hat sich selbst repariert". Sollte ich je Robert De Niro nahe genug kommen, werde ich ihn darum bitten mir dieses Szenenfoto aus BRAZIL zu signieren.

An gleicher Stelle läuft am Sonntag und Montag Akira Kurosawas YOYIMBO und am Dienstag und Mittwoch BAD TASTE, das erstaunlich gut aussehende No-Budget-Debüt von Peter Jackson, in dem ein blutiger und sehr komischer Kampf gegen Aliens in Jeanshemden geführt wird.



Im Metropolis: Seltsamerweise nachmittags um 16:00 Uhr ist am Sonntag der legendäre Regisseur Jerzy Skolimowski mit seinem neuen Film VIER NÄCHTE MIT ANNA zu Gast. Für den Siebzigjährigen, der unter anderem 1971 in London DEEP END mit der Musik von Can gedreht hat, ist es der erste Film seit fast zwei Jahrzehnten. Es soll sich um ein gelungenes und spannendes kleines Drama aus der polnischen Provinz handeln. Die Figuren: Ein Leichenverbrenner mit krimineller Vergangenheit, eine kränkelnde Großmutter und eine schöne Krankenschwester.

Weiter geht's außerdem mit der Jim-Jarmusch-Retro, mit Filmen von Sydney Lumet und mit der Derek-Jarman-Retrospektive. Und es startet eine Reihe zum Thema "Bauhaus und Film".



Nick Hornby über einen seiner Lieblingsfilme:

"Robert Altmans NASHVILLE ist einer meiner Lieblingsfilme – das glaube ich jedenfalls. Ich habe ihn eine ganze Weile nicht mehr gesehen und das letzte Mal sind mir einige Longueurs mehr aufgefallen als je zuvor. Vielleicht sollte man seine Lieblingsfilme und -bücher am besten einfach in Ruhe lassen: Dass sie eine so herrausragende Position einnehmen konnten, bedeutet, dass sie zum exakt richtigen Zeitpunkt in dein Leben getreten sind, am genau richtigen Ort, und diese Umstände können nie wieder hergestellt werden. Manchmal wollen wir sie wieder besuchen, um herauszufinden, ob sie wirklich so gut sind, wie wir sie in Erinnerung haben, aber diesem Impuls sollte man mit Misstrauen begegnen, denn er setzt voraus, dass wir Grund haben, unseren kritischen Einschätzungen beim Älterwerden mehr zu trauen, während ich langsam glaube, dass das Gegenteil der Fall ist. Als ich NASHVILLE das erste Mal gesehen habe, war ich achtzehn, und ich war elektrisiert von den Tonartwechseln, den plötzlichen Gefühls- und Bedeutungsausbrüchen, dem Ehrgeiz, der teilweisen Verworrenheit und sogar den Prätentionen. Ich glaube nicht, dass ich schon vorher einen Film mit einem künstlerischen Anspruch gesehen hatte, und auf keinen Fall hatte ich so einen gesehen, der in einer mir bekannten Welt spielt. Also kam ich an dem Abend als etwas veränderter Mensch aus dem Kino, dem plötzlich klar geworden war, dass manches auch ganz anders gemacht werden kann. Nichts davon wird nochmal passieren, na und? Und warum sollte man an einer guten Sache rumpfuschen? Lieblingsfilme sollten dableiben, wo sie hingehören, irgendwo tief in einem früheren Selbst begraben.

Jan Stuarts : 'The Nashville Chronicles' beschreibt liebevoll die Entstehung des Films, und das Buch zu lesen war eine gute Art, sich noch einmal mit Robert Altmans besten sieben Stunden oder wie lang das Ding auch war, zu beschäftigen, ohne ihn zu ruinieren, indem man ihn ein viertes oder fünftes Mal anschaut. Und davon abgesehen ist NASHVILLE ein Film, der sich auf etwas anderes als ein Drehbuch (das aus dem Fenster geworfen wurde, bevor die Dreharbeiten losgingen) oder konventionelle Filmtechniken verlässt, um seine Wirkung zu erzielen; also ist ein Buch besonders nützlich, um die Mittel zu verstehen. Altman hat offenbar aufs Geratewohl gecasted – ein Schauspieler wurde genommen, als er gerade bei einem anderen vorbeikam, um Gitarrenunterricht zu geben, und Shelley Duvall war eine studentische wissenschaftliche Fachkraft, bevor sie in Altmans reguläre Truppe aufgenommen wurde. Dann war da sein berühmter Vérité-Ton, der die Erfindung eines neuen Aufnahmesystems notwendig machte und sein Vertrauen in Improvisation und seine außergewöhnliche Art mit Massenszenen umzugehen, die von allen Darstellern ununterbrochenes Improvisieren erfordert hat, falls er sie sich mit der Kamera herauspicken würde.... Eigentlich ist es unmöglich, dass der Film nicht gut ist. Vergesst alles, was ich gesagt habe! Besucht Eure Lieblingsfilme regelmäßig!
Es ist schön, wieder da zu sein."



NASHVILLE wurde 1975 gedreht und ist gerade einmal 159 Minuten lang. Ich kenne ihn nicht, und der einzige Grund dafür ist der Titel. Und dabei spielt die Countrymusikindustrie offenbar nicht einmal eine große Rolle. Würde er MEMPHIS, DETROIT oder CHICAGO heißen, hätte ich den Film wohl auch schon mit achtzehn gesehen. So habe ich dank meiner Vorurteile wohl noch eine echte Entdeckung vor mir.
Auf DVD ist er auf dem deutschen Markt nicht erhältlich; auch in Großbritannien gibt es keine Ausgabe; wer also illegale Downloads meidet, ist gezwungen, sich die amerikanische DVD zu bestellen und kauft sich dazu am besten gleich einen zweiten DVD-Player für den Regionalcode 1.



Mit Hilfe von Clara Drechsler, die zusammen mit Harald Hellmann seine Bücher ins Deutsche überträgt, hatte ich vor ein paar Wochen Nick Hornby nach seinem Lieblingsfilm gefragt. Nur eine Antwort habe ich nicht bekommen, was ja auch kein Wunder ist, wenn man als Betreiber eines obskuren Blogs in einer obskuren Sprache einen viel beschäftigten Autoren mit E-Mails belämmert. Aber die Anfrage war für mich zugleich der Anlass, mir Hornbys jüngste Bücher vorzunehmen, die Skater-Fabel "Slam" und die dritte und letzte Ausgabe seiner gesammelten Kolumnen für das amerikanische Magazin The Believer. Und darin bin ich auf die oben zitierte Passage über NASHVILLE gestoßen. Herr Hornby, ich bin gar nicht auf Ihre Antwort angewiesen.

Den Autoren von "Fever Pitch", "High Fidelity", "About A Boy", "How To Be Good" und "A Long Way Down" braucht man nicht groß vorzustellen, aber erstaunlich wenig bekannt sind bei uns seine Bücher-Kolumnen aus dem Believer. Eine Weile wurden sie für das von Florian Gillies gegründete Magazin Monopol vom bewährten Team ins Deutsche übersetzt und auch in zwei Sammelbänden bei Kiwi veröffentlicht, aber alles ohne große Resonanz. Vielleicht lag's daran, dass viele der vorgestellten Bücher nicht oder noch nicht auf Deutsch zu haben waren; vielleicht lag's an den potthässlichen Umschlägen der deutschen Ausgaben, die den dafür denkbar ungeigneten Autoren als Coverboy vorne drauf pappen haben.
Jeder der ursprünglich monatlich erschienenen Kolumnen sind zwei Listen vorangestellt: gekaufte Bücher und gelesene Bücher. Und dann plaudert Hornby in seinem unnachahmlichen Tonfall schlau über das, was er gelesen hat oder darüber, warum er nichts gelesen hat (WM) und das auf eine so unterhaltende und anregende Art, dass ich bei der Stange bleibe, auch wenn mich manche Lektüre keinen Deut interessiert. Wenn etwas so gut geschrieben und mit intelligenten Abschweifungen gespickt ist, würde ich das auch noch gerne lesen, wenn es statt um Bücher um Autos oder Mode ginge. Oder um Fußball.
Die ersten beiden Kolumnenbände sind in Großbritannien zusammen in einem Paperback erhältlich; der dritte ist bislang nur in den USA erschienen; eine deutsche Ausgabe wird es wohl nicht geben.
Nicht minder empfehlenswert sind seine Popessays in "31 Songs": Da geht es jeweils um ein Lied, und so willkürlich die Songauswahl ist, so wenig vorherzusehen ist jeweils die Richtung, die der Text nimmt. Kompromisslose Subjektivität ist eine tolle Sache, wenn Nick Hornby das Subjekt ist. (Und eine Katastrophe bei manch anderen Subjekten.)



Und ein Film, den wir glücklicherweise nicht gesehen haben:

Ja, sowas hat Meister Altman auch verbrochen: Die Adaption eines Cartoons als Realfilm mit viel Gesang und Robin Williams in der Hauptrolle. Ich kann mir kaum etwas Entsetzlicheres vorstellen. POPEYE entstand gerade mal fünf Jahre nach NASHVILLE.



Umsonst und zuhause:


Am Donnerstag:

Ein Film aus Italien, von 2003. Eine Geschichte, die konsequent aus der Perspektive eines etwa zehnjährigen Jungen erzählt wird, der in einer abgelegenen Ecke Apuliens in den Siebzigern aufwächst. Er macht eine gruselige und unerklärliche Entdeckung und dann bald beginnt seine ganze Welt zu wanken, doch die Bedrohung geht nicht vom Fremden im dunklen Erdloch, sondern von den Menschen, die ihm am nächsten sind aus. Atmosphärisch überaus dicht mit vielen Szenen zwischen bis zum Horizont reichenden Weizenfeldern, ist dies der eindrucksvollste italienische Film aus diesem Jahrzehnt, Jahrhundert und Jahrtausend, den ich bislang gesehen habe. Bloß nicht verpassen, läuft auch schön werbefrei und zu anständiger Zeit auf arte. ICH HABE KEINE ANGST, um 21:00 Uhr, ShowView 8.132.426


Auch am Donnerstag:

Auf 3Sat um 22:25 Uhr läuft JUST A KISS, ein sehr schönes Ken-Loach-Melodram von 2004, das unerklärlicherweise ziemlich untergegangen ist. Pakistani liebt britische Lehrerin, spielt in Glasgow. ShowView 79.995.548


Auch am Donnerstag:

Auf Vox um 22:35 Uhr die kleine Gruselkomödie von Peter Jackson THE FRIGHTENERS. 1996 fanden das die Kritiker bei uns nur doof, und der Film war obskurerweise nur mit ganz wenigen Kopien unsynchronisiert zu sehen. Es ist aber eine sehr hübsche Geisterkomödie mit Biss und Michael J. Fox, bei der Jacksons Handschrift noch deutlich erkennbar ist. Zwar unblutig und ohne sonstige Tabuverletzungen, trotzdem aber noch viel näher an BAD TASTE und MEET THE FEEBLES als am HERRN DER RINGE. Wer's eh aufzeichnet, sollte es eher nachts tun: Die Wiederholung um 03:00 Uhr enthält keine Werbung. ShowView 4.712.426 / 5.238.407


Am Freitag:

Noch ein Film über Schule heute in den Pariser Banlieus. Anders als in DIE KLASSE wird das realistische Fahrwasser aber bald verlassen, und der Film nimmt stattdessen als Geiseldrama Fahrt auf. Diesmal dreht allerdings kein Schüler durch, sondern eine Lehrerin, die es einfach nicht mehr aushält. Und allein weil in dieser Rolle seit Jahren endlich mal wieder Isabelle Adjani zu sehen ist, lohnt sich schon das Anschauen. HEUTE TRAGE ICH ROCK! auf arte um 21:00 Uhr, ShowView 8.605.643


Auch am Freitag:

Ein untypisches, schwer beeindruckendes Drama von Claude Chabrol. Isabelle Huppert spielt in einer Paraderolle eine Frau fernab jeder Moral, die zur Zeit des Vichy-Regimes Abtreibungen anbietet. Ihr Mann findet das nicht so gut, als er nach Hause kommt. EINE FRAUENSACHE auf arte um 00:55 Uhr, ShowView 27.490.860


Am Samstagnachmittag:

Schon am Nachmittag um 16:05 Uhr der klassische Zorro-Film mit Tyrone Powers, energiegeladen, spannend und ironisch.
IM ZEICHEN DES ZORRO im Vierten, ShowView 83.060.119


Auch am Samstag:

Ein Rachedrama im Westerngewand von Henry Hathaway mit einem eindimensionalen, aber unter Höchstspannung stehenden Steve McQueen in der Hauptrolle. NEVADA SMITH, um 20:15 Uhr im BR, ShowView 3.826.131



Auch am Samstag:

Nicht gerade ein Geheimtipp, aber wer diesen packenden Krimi von 1967 mit Sydney Poitier und Rod Steiger nicht kennt, auf den wartet ein beonderes Erlebnis. Der erste Film, den ich eigenhändig auf Papas Videorecorder aufgezeichnet habe. Verzweiflungschreie stieß ich aus, als ich feststellen musste, dass der Besitzer von Recorder wie Kassette den Abspann mit dem wunderbaren Titelsong von Ray Charles mit einer Tatortfolge überspielt hat. ("Wieso, der Film war doch zu Ende?") IN DER HITZE DER NACHT im Ersten um 22:10 Uhr, ShowView 1.769.808
Die Sequels im Anschluss kann man getrost vergessen.


Auch am Samstag:

Stanislaw Mucha hat einen Monat bei Zigeunern in der Slowakei verbracht und gefilmt. Georg Seeßlen: "Nach Stanislaw Muchas ZIGEUNER 'weiß' man vielleicht nicht mehr, als man durch Bücher, Filme und Berichte schon weiß – und das ist genug, um zu wissen, dass hier Europa noch und schon unheilbar kaputt ist. Aber es ist etwas anderes geschehen: Man hat anderthalb Stunden lang die Welt mit den Augen slowakischer Zigeuner gesehen, und man hat zugleich gesehen, wie und warum dieser Blick so begrenzt ist. (...) Schön, unterhaltsam und nachhaltig".
ZIGEUNER, um 23:25 Uhr auf
arte. Zum ersten Mal im Fernsehen. ShowView 3.043.711


Am Sonntagnachmittag:

Gilt als unbekanntes Meisterwerk: ein klassischer Western von William A. Wellman. "
Der meisterhaft inszenierte Film verschmilzt die mythischen Elemente des Western mit sorgsamer psychologischer Zeichnung zu einer kraftvollen Fabel über den Konflikt zwischen Gut und Böse", meint das Filmlexikon. HERRIN DER WEISSEN STADT, im Vierten um 16:25 Uhr, ShowView 94.666.648
Parallel und davor zeigt übrigens
Tele5 zwei B-Klassiker des Genres von Budd Boetticher mit Randolph Scott.


Auch am Sonntag:

Der beste Fellinifilm, erfreulich unfelliniesk. Zwar auch sentimental, aber Meilen entfernt von den gesteuerten Emotionen in LA STRADA. Kleine Gauner und ein großes Drama. IL BIDONE im
MDR um 01:10 Uhr, ShowView 81.670.120


Auch am Sonntag:

Die erste Zusammenarbeit von Carl Reiner und Steve Martin: REICHTUM IST KEINE SCHANDE, gedreht 1979. 94 nicht immer leicht zu überstehende Minuten mit einem Volltrottel.
Auf
RTL2 um 02:25 Uhr, ShowView 71.796.892


Am Montag:

Die Konrad-Wolf-Verfilmung des Romans von Christa Wolf von 1964. "Der Film kann auf mehreren Ebenen gelesen werden, was ihn sicherlich bis heute zu einem wichtigen filmischen Erbe der DDR macht. Zum einen gibt es die eher oberflächlichere Liebesgeschichte, die der Teilung der beiden deutschen Staaten zum Opfer fällt. Auf der anderen Ebene spiegelt der Film doch sehr gut und genau die Umstände der damaligen Zeit, vor allem aus Sicht der DDR wieder. Es ist eine ziemlich deutliche Erklärung für die Legitimität des sozialistischen Staates der DDR", schreibt Lina Dinkla in der Filmzentrale. DER GETEILTE HIMMEL um 23:00 Uhr im MDR, ShowView 29.490.859


Am Dienstag:

Ein Coming-of-Age-Drama von 2003 über einen antriebsschwachen Jugendlichen, die Liebe und dramatische Entwicklungen. Gehört zum Weizengenre: Auch hier spielen die endlosen Getreidefelder eine bestimmende Rolle. Wie auch bei IN DER GLUT DES SÜDENS, SCHREI IN DER STILLE, TIDELAND und ICH HABE KEINE ANGST. DANDELION im RBB um 23:05 Uhr, ShowView 5.994.502
Mit hübschen Songs im Soundtrack wie diesem:



Auch am Dienstag:

Das Regiedebüt von Peter Fonda, sehr ruhig erzählt, ein Western von 1970 für Leute, die keine Western mögen. Fonda selbst spielt auch die Hauptrolle. Wenn er zur Abwechslung mal in einem guten Film mitmachen wollte, musste er ihn schon selber drehen. DER WEITE RITT auf 3Sat um 23:00 Uhr, ShowView 9.011.908


Am Mittwoch:

Ein sehr ungewöhnlicher Film von und mit Clint Eastwood. Nicht nur, weil es auch um Bergsteigen an der Eigernordwand geht, sondern vor allem, weil Eastwood einen kultivierten und sehr eloquenten Kunstprofessor spielt, der in seiner zweiten Identität Killer zur Strecke bringen soll. Ich bin gespannt. Im Vierten um 20:15 Uhr, ShowView 51.191.309


Auch am Mittwoch:

Schöne, elegische Ang-Lee-Verfilmung des großartigen Romans vom Country-Noir-Meister Daniel Woodrell. Mit Tobey Maguire, Skeet Ulrich und Jewel. WER MIT DEM TEUFEL REITET am Mittwoch um 22:25 Uhr auf 3Sat. ShowView 59.970.813


Auch am Mittwoch:

Um 00.50 Uhr schließlich läuft ein viel versprechendes australisches Coming-Of-Age-Drama: DAS GEHEIMNIS DER ALIBRANDIS. Es geht um alltägliche Nöte einer Siebzehnjährigen. Mit Anthony LaPaglia, nach einem in Australien sehr erfolgreichen Jugendbuch. Angeblich ist es das meistgeklaute Buch aus den dortigen Schulbibliotheken.


Wie immer gibt es außerdem noch viele weitere sehenswerte und wohlbekannte Filme im Programm, beispielsweise HOTEL NEW HAMPSHIRE, FULL METAL JACKET, 5x2 – FÜNF MAL ZWEI, ROLLERBALL, FLUCH DER KARIBIK, BELLE DE JOUR, DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE, JAMES BOND: FEUERBALL, OUTLAND – PLANET DER VERDAMMTEN, DIE FAUST IM NACKEN und GANGS OF NEW YORK. Wer suchet, der findet.

Wer die Fernsehtipps lieber häppchenweise, an den jeweiligen Ausstrahlungstagen lesen will, wechselt zur Fernsehprovinz.



Eine Googleabfrage, die letzte Woche jemanden aus Hattersheim in Hessen
auf diese Seiten führte: "urlaub in brandenburg-naziland?".

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