Straßen und Flügel

"Der Western ist vielleicht sowieso das beste Genre. Man sitzt in Ruhe da und schaut sich die Landschaft an. Die Probleme werden meist mit Gewalt gelöst. Es wird nicht lange gequatscht und wenn gesprochen wird, fällt immer das richtige Wort. 'Jetzt schau nicht so blöd, sonst fängst du eine!' Und schon hat man eine drin! Sagen wir mal so: Der Western ist dem Bayerischen einfach sehr nahe."

Herbert Achternbusch


Woche 19/2009 (14.5. - 20.5.)

Die Neustarts:


Derzeit habe ich zu keinem Herkunftsland so ein Vertrauen wie zu Belgien. Ausnahmslos alle belgischen Filme, die ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe, waren toll. Und alle, die ich verpasst habe, haben einen verdammt guten Eindruck gemacht. Sympathisch obendrein ist es, dass die belgische Filmförderung, wie auch immer die organisiert ist, offenbar kein Problem damit hat, dass das Land in der Regel so dermaßen trist und menschenfeindlich dargestellt wird, dass niemand sich durch die Filme inspiriert fühlen könnte, mal eine Reise dahin zu machen.

ELDORADO ist ausgerechnet ein Roadmovie. Herrlich. Auf die Reise geht ein ungleiches Paar, ein Einbrecher und sein Opfer und unterwegs treffen sie auf Psychoten, Nudisten und andere seltsame Typen. Soll sehr komisch und wunderbar gespielt sein, und das hässliche Belgien wird in ganz wunderbaren Landschaftsaufnahmen vorgeführt.
Regisseur, Autor und Hauptdarsteller Bouli Lannen hat übrigens in dem ulkigen Behinderten-Roadmovie AALTRA als finnischer Entertainer diese hübsche Coverversion von "Sunny" zum Besten gegeben. Hier der Trailer von ELDORADO:



Der Film läuft im 3001 und im Abaton, allerdings leider nur synchronisiert. Wie immer hier die Kinos anderswo.




RICKY soll überhaupt nix zu tun haben mit all den eh schon recht unterschiedlichen Filmen, die François Ozon in den letzten 20 Jahren zusammengedreht hat, ein seltsamer Bastard, der wie ein Sozialdrama der Dardenne-Brüder anhebt und unversehens ein Wendersches Flügelwesen ins Spiel bringt. Die Reaktionen bei der Berlinale waren im Februar überwiegend ablehnend, der Film wurde entweder gleich als abstruses Kitsch-Märchen in die Tonne getreten oder verursachte bei den wohlwollenderen Schreibern mindestens eine gewisse Ratlosigkeit. Dass sich die Engelsgeschichte so wenig einordnen lässt und sich offenbar bis zum Schluss billiger Erklärungen enthält, finde ich eigentlich recht reizvoll und würde vorsichtig zum Kinobesuch raten. Allein schon eine spektakuläre Babyflugszene im Supermarkt könnte den Eintritt wert sein.

RICKY läuft im Holi und im Blankeneser. Hier die Kinos anderswo.
Mein Lieblingsfilm von Ozon heißt übrigens EIN SOMMERKLEID, ist von 1996 und gerade einmal fünfzehn Minuten lang. Gibt's in zwei Teilen bei youtube zu sehen. Mit dieser hübschen französischen Coverversion von "Bang Bang" im Soundtrack.



Außerdem neu:


Der deutsche Film TANGERINE wird überwiegend gelobt, aber ich werde immer sehr misstrauisch, wenn in den Kritiken betont wird, wie wenig klischeehaft etwas sei oder dass komplexe Inhalte ja gar nicht arg vereinfacht worden seien. Meist ist allein die Nennung solcher Begriffe ein Indiz dafür, dass dem Rezensenten die Plumpheit und die Plattitüden zwar auffallen, er uns den Film aber trotzdem unbedingt schön schreiben will. Es geht um ein junges, hippes Berliner Touripaar in Tanger und um deren amouröse Verwicklungen mit dortigen Einheimischen und die drastischen Folgen. Beim Debüt von Irene von Alberti stand Birgit Möller hinter der Kamera, die uns als Regisseurin vor drei Jahren den schönen VALERIE beschert hat.
Der Abspannsitzenbleiber nutzt für die Einschätzung neuer Filme neben anderen die Kategorie "Vielleicht mal im Fernsehen". Genau da würde ich diesen ambitionierten kleinen Film einordnen.

TANGERINE läuft im Zeise. Hier alle Kinos im Land.




Ich kann mit historischen Vatikan-Verschwörungsthrillern überhaupt nichts anfangen, in welcher Form auch immer; bevor ich Dan-Brown-Bücher lese oder mir ILLUMINATI im Kino angucke, gehe ich noch lieber in den nächstbesten katholischen Gottesdienst; davon verspreche ich mir vergleichsweise kurzweilige Unterhaltung. Wem die Bücher gefallen, sollte, nach allem was man lesen kann, ebenfalls einen Bogen um den Film machen; der scheint absurderweise gewaltig geglättet und entschärft worden zu sein: Ein Attentäter ist kein Moslem mehr, der Papst zeugt kein Kind, ein Mord weniger wird verübt, und das Ende kommt auch wie üblich freundlicher daher. Peter Körte meinte in der FAS: "140 zähe Minuten. (...) Die Kamera steigt und taucht und schwebt und gleitet, um die Schauwerte ordentlich ins Bild zu rücken, und von der Tonspur dröhnt und orgelt es ständig bis zur Besinnungslosigkeit".
Das Niveau des Vorgängers, THE DA-VINCI-CODE – SAKRILEG, scheint aber nicht noch unterboten zu werden; wer also, wegen individueller religiöser Vorschäden oder aus anderen Gründen, den ersten Teil mochte, dem wird auch der zweite bombastisch inszenierte Abstieg in die paranoiden Kirchenwelten gefallen.

ILLUMINATI läuft im Streits OF, außerdem im sympathischen Fama in Lurup, im Blankeneser, Koralle und natürlich in sämtlichen Multiplexen. Hier die Kinos allerorts.





Ein frustrierter Enddreißiger wird wieder siebzehn und sieht dann aus wie Zac Efron, der Teeniestar aus Disneys High-School-Musical-Serie, was allein schon für ein zufriedenstellendes Einspielergebnis sorgen dürfte. Wer den Jüngling nicht anschmachtet, sollte um die öde Romcomklamotte für Pubertierende eher einen Bogen machen.

17 AGAIN läuft in allen Multiplexen, überall. Hier die Auflistung der Kinos.


Das scheint ein ganz peinlicher abendfüllender Werbespot für Berlin geworden zu sein, den Kameraaltmeister Michael Ballhaus und Regisseur Ciro Capellari da verzapft haben. Ina Bösecke, der ich massenweise Aufträge geben würde, wäre ich Filmredakteur, schreibt in konkret: "Sie möchten anhand der Menschen, die hier wohnen, den 'Geist von Berlin' aufspüren, bilden aber fast nur kreatives oder etabliertes Volk ab, das erzählt, wie toll die Hauptstadt ist. (...) Nicht zu Wort kommen die Junkies am Kottie, die Obdachlosen in der U-Bahn und die vielen Menschen, die frustriert an der Theke hängen oder gleich im Bett bleiben, weil sie zwar auch sehr kreativ und kompetent sind, sich aber kein Schwein für sie interessiert". Sogar der Kanzlerkandidat und der Möchtergernkanzlerkandidat der SPD dürfen ihre Berlinwerbesprüche absondern. Hoffentlich ist kaum jemand bereit, für die Dauerwerbesendung Eintritt zu bezahlen. Dann bleiben uns wenigstens ähnliche Produkte aus München, Köln und der Kinoprovinz Hamburg erspart. Finanziert wurde das Ganze vor allem mit GEZ-Gebühren über den RBB und arte, außerdem indirekt über die Filmförderungsanstalt. Und ordentlich Steuergeld steckt über das "Medienboard Berlin-Brandenburg" auch noch drin.

IN BERLIN wird vom Zeise gezeigt; hier die Kinos in anderen Städten. (Außer den Berlinern selber werden von den Kinobetreibern offenbar nur wir Hamburger und die Düsseldorfer für doof genug gehalten, das anschauen zu wollen.)


Schon wieder ein unnötiges, einfallsloses Remake eines legendären Horrorfilms: THE LAST HOUSE ON THE LEFT macht sich auch wieder auf billige Weise an die Portemonnaies jugendlicher Multiplexbesucher ran. Das Original von Wes Craven, gedreht 1972, genießt einen ausgeprochen guten Ruf bei Freunden des Gore-Kinos und hat eine ewig lange Zensurgeschichte hinter sich. Bei uns steht es auf dem Index und ist in deutscher Fassung nur extrem verstümmelt, auf 64 Minuten gekürzt, zu bekommen. In Großbritannien ist aber letzten Herbst erstmals eine ungeschnittene Version auf DVD veröffentlicht worden. Bei imdb hat der Film eine erstaunlich schlechte Durchschnittsnote: 5,8.

Das Remake THE LAST HOUSE ON THE LEFT läuft im Cinemaxx, Cinemaxx Harburg, UCI Othmarschen und im UCI Wandsbek. Hier die Kinos anderswo.


Wöchentliche Provinzialitätsmessung:


Außerdem startet anderswo der italienische Aussteigerfilm DER WIND ZIEHT SEINEN WEG (Kinos), ICHI – DIE BLINDE SCHWERTKÄMPFERIN, ein Titel, bei dem man zurecht an Zatoichi denkt (Kinos), WÄRE DIE WELT MEIN, ein schwules Shakespeare-Musical (Kinos), WIR SIND PAPST, eine Doku über die Auswirkungen der Ernennung Joseph Ratzingers zum unfehlbaren Oberkatholen auf sein Herkunftskaff in Oberbayern (Kinos), DIE BESUCHERIN, ein rätselhafter deutscher Liebesfilm (Kinos), NACH DER MUSIK, ein Potrait des Dirigenten Otmar Suitner von seinem Sohn (Kinos), MATERIAL, eine deutsche Sammlung dokumentarischer Filmschnipsel (Kinos) und IM SOG DER NACHT, der deutsche Versuch, einen Caper zustande zu bringen (Kinos). In Hamburg starten also 57 Prozent der neuen Filme. In Berlin dagegen alle, wie immer. Da gibt's wirklich auch jede deutsche Doku und jeden Fernsehfilm, der zur Erlangung von Fördergeldern auch im Kino laufen muss, zu sehen. Ja, ich wundere mich, dass mir das noch keiner vorgeworfen hat: Zum überwiegenden Teil sind die Filme, die Woche für Woche in der Kinoprovinz nicht ankommen, nicht gerade unentbehrliche Meisterwerke, sondern deutsches Mittelmaß, oder? Andererseits sind natürlich überhaupt die Mehrzahl aller Filme, auch derer, die bei uns gezeigt werden, Mist. Und über's Jahr kommen eben doch eine Menge interessanter Filme zusammen, die uns in unserer armseligen Kinolandschaft vorenthalten werden. Freilich sind die wenigsten davon aus heimischer Produktion. Hier wird weiter wöchentlich abgezählt.


Weiterhin:


BOY A nur noch am Wochende um 12:00 Uhr (!) im UCI Mundsburg. Das war's schon wieder. (Kinos anderswo)

THE WRESTLER diese Woche am Sonntag spät im Abaton, wieder OmU. (Kinos anderswo)

DER KNOCHENMANN für alle, die ihn verpasst haben, noch eine Woche spät im 3001. (Kinos anderswo)

C´EST LA VIE – SO SIND WIR, SO IST DAS LEBEN im Abaton. Am Wochenende nachmittags sogar einmal OmU. (Kinos anderswo)

WIR SIND ALLE ERWACHSEN im Elbe und im Abaton. (Kinos andernorts)

IL DIVO – DER GÖTTLICHE im Passage und im Zeise. (Kinos)

DUPLICITY im Streits OF und in deutscher Fassung im Cinemaxx, Cinemaxx Harburg und in den UCI-Multiplexen. (Kinos anderswo)

SLUMDOG MILLIONAIRE bei uns im Abaton OmU und in deutscher Fassung im Elbe, Blankeneser, Zeise, Blankeneser, Koralle, Cinemaxx, Cinemaxx Harburg und in den UCI-Multiplexen. (Kinos anderswo)

GRAN TORINO immer noch im Passage und im Alabama. (Kinos anderswo)

WALTZ WITH BASHIR noch einmal mittags am Wochenende im Abaton. (Kinos anderswo)


Nicht mehr bei uns, aber noch anderswo zu sehen:

BEDINGUNGSLOS – JUST ANOTHER LOVE STORY (Kinos), RACHELS HOCHZEIT (Kinos) WASSER UND SEIFE (Kinos), THE FALL (Kinos), REVANCHE (Kinos), JERICHOW (Kinos), DIE KLASSE (Kinos), BOLT (Kinos), VICKY CRISTINA BARCELONA (Kinos), DER FREMDE SOHN (Kinos), SO FINSTER DIE NACHT (Kinos), 35 RUM (Kinos), ALTER UND SCHÖNHEIT (Kinos), IT´S A FREE WORLD (Kinos), O´HORTEN (Kinos), STELLET LICHT (Kinos), SECRET SUNSHINE (Kinos) und DIE PERLMUTTERFARBE (Kinos).




Außer der Reihe:




Das Metropolis setzt die Russischen Filmtage fort; diese Woche gibt es unter anderem den leichtfüßig daherkommenden und vielgelobten RUSALKA (Meerjungfrau) zu sehen. Außerdem kommen einige Klassiker wie STAGECOACH zur Aufführung (den ich nach der frustierenden Erfahrung, bei einer Videovorführung im Englischunterreicht – 8. Klasse – bei der der Lehrer mit einem Heft die Untertitel verdeckte, so gut wie gar nichts verstanden zu haben, nie wieder gesehen habe; eine Erfahrung, die vermutlich der Grund dafür ist, dass ich heute noch, sicherheitshalber, wenn ich die Wahl habe, immer die OmU-Fassung der Originalversion vorziehe). Im Rahmen der Lars-von-Trier-Retrospektive läuft IDIOTEN, und bei der Gelegenheit würde ich doch gern mal wissen, was eigentlich aus dem an dieser Stelle verabredeten Blind Date geworden ist. Wo bleiben die Fotos?
Haben sich die "kleine, dicke, runzelige Frau mit der Weihnachtsmann-Plastiktüte" und der "dickbäuchige Typ mit der ausgeprägten Halbglatze" gefunden?


Andrea Maria Schenkel auf meine Frage nach ihrem Lieblingsfilm:



"Mein Lieblingsfilm? Es gibt viele, aber ganz spontan.... IN CHINA ESSEN SIE HUNDE. Was mag ich an diesem Film? Den ziemlich schrägen Humor und es ist natürlich ein Krimi, wenn auch ein etwas ungewöhnlicher. Und alleine der Titel ist fantastisch!
Fragen sie mich bitte nicht nach Regisseur und Hauptdarsteller, ich weiß nur, dass es sich um eine dänische Produktion handelt.
Auch der zweite Teil OLD MEN IN NEW CARS ist sehenswert".

Der Regisseur: Lasse Spang Olsen. Die Hauptdarsteller: Kim Bodnia, Dejan Cukik und Nikolaj Lie Kaas. Der Film stammt von 1999, und ich habe ihn damals im Kino sausen lassen, war mir nicht sicher, ob das nicht vielleicht nur ein schäbiges PULP-FICTION-Imitat ist. Doch die bizarre Geschichte über den Überfall eines Geldtransporters scheint ein eigenständiges und sehr komisches Stück Kino zu sein, und schäbig ist höchstens meine klaffende Bildungslücke.

Dem Filmlexikon gefiel er allerdings überhaupt nicht: "Ein ganz auf seine sich verselbstständigenden und immer brutaler werdenden Actionszenen hin inszenierter Film mit zynischer Grundhaltung. Der groteske Aberwitz der Handlung wird nicht zuletzt auch wegen der schwach entwickelten Charaktere nie aufgefangen."

Wirklich neugierig werde ich aber auf den Film, weil er so hochemotionale Verrisse wie den von Thomas Waitz im Schnitt provoziert hat. Er schrieb: "Es sind nicht einmal die sichtbaren Brutalitäten des Films, es ist sein niederträchtiger, alles Menschliche mit Füßen trampelnder Nihilismus, der die Abscheu hervorbringt. Da werden ach-so-coole Witze auf Kosten von Schwulen und Behinderten gemacht. Soll das lachen machen? Soll uns das einen Spiegel vors Gesicht halten? Nein, das ist einfach nur erbärmlich und dumm. Schlicht etwas auszusprechen, was nicht politisch korrekt ist, stellt mithin keinen Witz dar. Das könnte als Abwehr funktionieren, der Film macht sich aber die menschenverachtende Gefühlslosigkeit seiner Figuren, den moralischen Relativismus, nach dem nur das eigene Handeln, das eigene ethische Empfinden zählt, auf widerlichste Art zu eigen und offenbart eine Haltung, nach der die einzige anerkennenswerte Verantwortung die ist, welche man sich selbst gegenüber habe. Zynismus hat immer auch etwas mit einer schmerzhaften, verzweifelten Liebe zu tun. Olsen hat keine Liebe. Weder für seine Figuren, noch für den Zuschauer, noch für das Kino selbst. "

IN CHINA ESSEN SIE HUNDE ist ungekürzt (Fsk-18) problemlos auf DVD in deutscher Fassung zu bekommen.




Andrea Maria Schenkel hat 2006 ihren Debütroman "Tannöd" bei der kleinen, feinen Edition Nautilus in Hamburg veröffentlicht. Und hatte, obwohl keiner sie kannte und es kein nennenswertes Werbebudget gab, einen erstaunlichen Erfolg damit: Die Gesamtauflage übersteigt mittlerweile deutlich die halbe Million, der Titel wurde in über 20 weiteren Ländern veröffentlicht.
Elke Heidenreich, die sich ansonsten nicht sonderlich für Kriminalliteratur interessiert, dürfte mit einer ausdrücklichen Empfehlung in ihrer damaligen ZDF-Sendung nicht unerheblich zum Erfolg beigetragen haben, aber auch diese Empfehlung hätte es nie gegeben, wenn Schenkel da nicht ein sehr originelles und fesselndes Buch geglückt wäre. Es erzählt die Geschichte eines historischen Kriminalfalls, eines bestialischen Mordes an einer Familie und überzeugt vor allem mit der Erzähltechnik, die darin besteht, auf eine verblüffend mitreißende Art, einen Flickenteppich aus unterschiedlichsten pseudo-dokumentarischen Erzählstimmen auszurollen.

Das gleiche System hat sie dann im zweiten Roman "Kalteis" erneut angewandt, wieder ein historischer Fall, wieder viele Stimmen und viele Lücken dazwischen, und dazu kamen geradezu blutrünstige Schilderungen von Gewalttaten. Die Kritik, bei "Tannöd" noch gleichstimmig jubelnd, reagierte deutlich zurückhaltender, die Verkaufszahlen waren jedoch erneut beachtlich.
Mir schien es völlig legitim zu sein, die gleiche Technik wieder anzuwenden, und ich fand auch das Ergebnis durchaus überzeugend.

In diesem Frühjahr ist nun, sympathischerweise, trotz des Erfolgs nicht bei Rowohlt oder Fischer, sondern erneut beim Nautilus Verlag, "Bunker" erschienen, und diesmal ist die Aufnahme recht frostig ausgefallen. Andrea Maria Schenkel hat etwas Neues versucht, reine Fiktion, Gegenwart, nicht ganz so ein, auf den ersten Blick, unüberschaubares Stimmengewirr. Zur Strafe wird sie wenig besprochen, vage gelobt oder gleich verrissen.
Und dabei ist die Entführungsgeschichte, die zwischen inneren Monologen von Opfer und Täter wechselt und dazwischen Schilderungen von einem Notarzteinsatz, die chronologisch ans Ende der Geschichte gehören, mischt, keineswegs misslungen, sondern ein vielversprechender Versuch, auf eine ganz neue Weise mit einer Kriminalhandlung umzugehen. Schenkel nimmt sich auf eine erfrischende Weise Freiheiten, die im stark von Konventionen bestimmten Krimigenre kaum sonst einer hat, und ich bin sehr gespannt, wohin sie das in Zukunft führen wird. Wer bislang nichts von ihr kennt, kann getrost mit "Bunker" anfangen, glaubt mir. Erfreulicherweise hat der Band, wie die vorherigen und ganz im Gegensatz zum anhaltenden Tausend-Seiten-Trend, einen bescheidenen Umfang, den man problemlos an ein bis zwei Abenden bewältigen kann.
Ob man aber von dem im Herbst in die Kinos kommenden Tannöd-Film viel erwarten kann, wage ich zu bezweifeln. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Macher einen Weg gefunden haben, den Schenkelschen Flickenteppich-Stil adäquat in eine filmische Form zu bringen. Aber warten wir's ab.



Umsonst und zuhause:


Am Donnerstag:



Wer den wunderschönen, ja bezaubernden Film von Mirandy July aus dem Jahr 2005 tatsächlich noch nicht kennt, dem sei er ausdrücklich und wärmstens empfohlen
; er ist von zarter und exquisiter Komik und niemand mag seine leicht gestörten Geschöpfe mehr als die Autorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin, die erfreulicherweise neben ihrer Kunst und dem Schreiben von Kurzgeschichten auch einen neuen Film in Angriff genommen hat. Hier ihre Website und hier ihr Blog zum ersten Film und hier ein anderes Projekt von ihr und hier ihre hübsche Promotion von entwaffnender Einfachheit für das Buch (aktualisiert!) und hier das Buch auf englisch und hier auf deutsch und hier ein Wikipediaeintrag über sie. ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN auf arte um 21:00 Uhr, ShowView 818.917

Blöd ist es natürlich, dass dieser Eintrag wieder mal so spät fertig geworden ist, dass der Hinweis nix mehr nützt. Aber es gibt Wiederholungen:
18.05.2009 um 14:45
26.05.2009 um 14:45
04.06.2009 um 14:45


Am Freitag:



Ein guter Copthriller, der souverän an die beste Zeit des Genres, an die Siebziger, anknüpft mit einem überragenden Ray Liotta. Kam bei uns komischerweise nicht ins Kino, dafür aber in Panama, Indonesien, der Schweiz und in 17 weiteren Ländern. NARC von 2002, leider werbeunterbrochen auf Pro 7, um 00:10 Uhr. ShowView 6.191.500


Am Samstag:



Ulrike Ottingers Filmfeature PRATER, in dem unter anderen Elfriede Jelinek und Veruschka von Lehndorff zu Wort kommen. Wahrscheinlich kenntnisreich, klug und kurzweilig. Auf arte um 23.05 Uhr. ShowView 7.893.245


Auch am Samstag:



Spencer Tracy, für diese Rolle mit dem Oscar ausgezeichnet, gründet als Pfaffe ein Dorf zur Resozialisierung jugendlicher Straftäter; seinen Widerpart spielt Mickey Rooney als Tunichtgut. Selbstverständlich nicht frei von Sentimentalitäten, bei imdb durchschnittlich mit 7,4 benotet. TEUFELSKERLE im BR um 01:35 Uhr, ShowView 1.406.901


Am Sonntag:



Schöner später Louis-Malle-Film mit Burt Lancaster als abgehalfterter Gangster in einem ebenso abgehalfterten Atlantic City in den späten Siebzigern. ATLANTIC CITY, USA auf Tele5 um 00:00 Uhr, ShowView 4.294.499


Am Montag:



Wiederholung von ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN am Nachmittag auf arte um 14:45 Uhr, ShowView 7.064.857


Auch am Montag:



Ausnahmsweise sei hier auf einen reinen Fernsehfilm hingewiesen, und das auch noch zur Hauptsendezeit; eine Geschichte um eine zurückliegende Vergewaltigung und einen Mord, um den Vater des Opfers und um den etwaigen Täter. Der wird, ungewöhnlicherweise und ganz ernst, von Josef Hader gespielt, und das ist der einzige Grund für diese Empfehlung. Denn wie der Abspannsitzenbleiber mal schrieb: "Ein Film, in dem Josef Hader mitspielt, kann nicht ganz schlecht sein". EIN HALBES LEBEN im ZDF um 20:15 Uhr, ShowView 5.946.876



Am Dienstag:



Gut zu wissen, dass es Regisseure gibt, die, wie hier Denis Dercourt, souverän Chabrolfilme hinbekommen. Das wird den Verlust mindern, wenn der Altmeister dann doch mal mit dem Arbeiten aufhört. Beim MÄDCHEN, DASS DIE SEITEN UMBLÄTTERT handelt es sich um eine fiese Rachegeschichte im bürgerlichen Milieu
, bei der nicht zwanghaft alle losen Enden verknotet werden. Sehr hübsch das alles. Und sehr gut gespielt von Catherine Frot und Déborah Francois. Im BR um 21:45 Uhr, ShowView 5.963.161


Auch am Dienstag:




Humphrey Bogart ist ein kleiner Gangster, der Jagd auf deutsche Spione in Manhattan macht. Die Komödie mit B-Movie-Charme ist von 1941 und ensprechend voller Kriegspropaganda; Bogart soll großartig sein und Conradt Veidt wie Peter Lorre geben sicherlich prima Hollywood-Nazis ab. Die deutsche Synchronfassung wird wohl in Ordnung und frei von Verfälschungen sein; sie wurde erst 1989 fürs Fernsehen erstellt. Bogart hat die vertraute Stimme von Joachim Kemmer. Ungekürzt. AGENTEN DER NACHT, auf N3 um 01:05 Uhr, ShowView 2.987.136


Am Mittwoch:



Ein früherer Musikfilm vom I'M-NOT-THERE-Regisseur Todd Haynes, von 1998. Hatte ich damals wegen meiner Biopicallergie nicht mal in Betracht gezogen anzuschauen. Nach seinem Dylan-Coup sieht das natürlich ganz anders aus. VELVET GOLDMINE scheint ein clever konstruierter Epochenrückblick und ein filmischer Popmusikessay obendrein zu sein. Und Biopic darf man das Werk nun wirklich nicht schimpfen, denn Haynes knüpft nur hier und da an die Biographien von David Bowie, Lou Reed und Iggy Pop an und fabuliert ansonsten munter drauflos. Im Ersten um 00:50 Uhr, ShowView 53.886.421

"Velvet Goldmine" ist eigentlich ein Bowie-Song aus den "Hunky-Dory"-Sessions, den ich gar nicht kannte. Ihr etwa?




Außerdem gibt es wieder eine Menge weiterer wohlbekannter Filme im Programm, etwa MEAN STREETS – HEXENKESSEL, DAS BOOT, MACH'S NOCH EINMAL SAM, DIE KÖRPERFRESSER KOMMEN, ERIN BROCKOVICH, SHAFT, DAS APPARTEMENT, MARNIE, DER MANN OHNE VERGANGENHEIT, PANZERKREUZER POTEMKIN, GROSSE FREIHEIT NR. 7, FRANTIC, CACHÉ und HALBE TREPPE.
Wer suchet, der findet.


Eine Googleabfrage, die letzte Woche jemanden
aus Zell am Main auf diese Seite führte: "dorfpunks illegal schauen".

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