Ein großer Mann macht Geschichte und ein Kuss macht Beziehungsdurcheinander

Woche 32/2008



Sergej Bodrow hat in den 90ern zwei sehr beeindruckende Filme gemacht, die auch bei uns ins Kino kamen und einige Beachtung fanden: Die düstere Schilderung einer kaputten Jugend in russischen Strafanstalten in FREIHEIT IST EIN PARADIES und die in das heutige Tschetschenien versetzte Tolstoiadaption GEFANGEN IM KAUKASUS. Seitdem pendelt er zwischen den USA und Russland hin und her und hat allerlei seltsames Zeugs gefilmt, vom naiven Pferdefilm in Afrika bis zur seltsamen europäischen Gemeinschaftsproduktion mit ganz viel Poesie und Zirkusquatsch und einem Bären, der zum Menschen wird.
Und jetzt ist er auf einmal wieder da mit einem offensichtlich ganz erstaunlich guten Historienepos über die Jugend des Dschingis Khan. DER MONGOLE soll zwar monumental sein und alles aus Massenszenen und Landschaftsaufnahmen rausholen, was das Format 1 : 2,35 hergibt, dabei aber weit entfernt sein von der Überwältigungsästhetik jüngerer US-Schinken oder dem ekeligen Kitschbombast aus China wie HERO. Verzichtet wird auf selbstzweckhaftes Schwelgen in Bilderpracht und vor allem ist die Tonspur frei vom üblichen Gedröhne. In der Mongolei freut man sich wohl nicht über einige historische Unkorrektheiten und erst recht nicht über japanische Hauptdarsteller, aber eigentlich ist es erstaunlich, dass ein russischer Film überhaupt ein positives Bild des mongolischen Eroberers zeichnet. Im wesentlich sollen die Fakten auch durchaus stimmen. Blutige Kämpfe, Liebe und Gefangenschaft vor spektakulärem Hintergrund, ich guck mir das an und hoffe, dass es mehr mit Kurosawas RAN zu tun hat, als mit ALEXANDER. Alexandra Wach gefiel der Film übrigens durchaus, so hat man beim Lesen ihrer Kritik im filmdienst den Eindruck, nur gefällt ihr nicht, dass er ihr gefällt: Es "bleibt bei aller Überwältigung der Eindruck, es mit generalstabsmäßig kalkuliertem, anachronistischem Heldenkino in der Tradition von „Große Männer machen Geschichte“ zu tun zu haben". Wenn es solche Mühe macht, die ideologischen Bedenken aufrecht zu erhalten, muss der Film wirklich was taugen. DER MONGOLE läuft im Abaton, im Blankeneser und im UCI Wandsbek.



KÜSS MICH BITTE scheint ein Film zu sein, der allen Vorurteilen über französisches Kino gerecht wird: Elegant und kultiviert wird von Beziehungswirren erzählt, die durch einen Kuss ausgelöst werden. Schöne Frauen, gepflegtes Ambiente, geistreiche Dialoge und dezente Klassik im Hintergrund für alle, die von sowas nicht genug kriegen können. Läuft in Hamburg natürlich im Holi, außerdem nachmittags im Koralle. (Vorsicht: Da gibt es manchmal ohne jede Warnung miserable Digitalprojektionen)



Außerdem neu:



Bereits am Mittwoch ist FACTORY GIRL angelaufen, der vorgezogene Start fiel so auf den 80. Geburtstag Andy Warhols und vielleicht ist deshalb ja der eine oder andere Artikel im Feuilleton mehr erschienen oder zumindest größer geworden. Erzählt wird vom kurzen Leben der Edie Sedgwick zwischen Warhol und Dylan. Was ich von Biopics halte will ich hier nicht jedes Mal wiederholen, dieser Vertreter des dümmsten Genres überhaupt scheint jedenfalls so ausgesprochen doof zu sein, dass selbst Biopicverteidiger Matt, dem dazu auch noch ein wenig inhaltliches Interesse unterstellt werden kann, meint, das sei "alles andere als spannend": "Hickenlooper erzählt (...) über weite Strecken in grobkörnigen, verwaschenen Wackelbildern, das soll authentisch wirken. Doch der pseudodokumentarische Bilderreigen verdeckt wie eine mit 60er-Jahre-Motiven bedruckte Folie die Gefühlswelt von Edie Sedgwick". Die wackelige Folie kann man sich in den UCI-Multiplexen, im Koralle und nachmittags im Blankeneser augucken. Falls man das will.


Und: Schon wieder ein Coming-Of-Age-Drama, diesmal geht es um einen 12jährigen Jungen und seine psychisch kranke Mutter in einem Kibbuz in den 70ern, ein israelischer Film, in dem auch Geld aus Deutschland, Frankreich und Japan steckt. Der "deutsche" Titel ist wie beim letzten (übrigens tollen) Film aus Israel, JELLYFISH, idiotischerweise ein englischer: SWEET MUD. Der Film ist wohl handwerklich ganz passabel, wenn auch etwas altmodisch. Vielleicht was für 12jährige? Interessant könnte es sein, wie das gescheiterte Kibbuzsystem dargestellt wird. Mit Sympatie? Oder diffamierend? Der süße Matsch läuft nur nachmittags im Koralle und wer Interesse hat, sollte unbedingt vorher telefonisch klären, ob die eine 35mm-Kopie haben. Oder nur einen Datenträger.



Und: ZURÜCK IM SOMMER, ein Melodram über einen Schriftsteller, der Probleme mit seiner Familie hat, die allerdings gleich zu Beginn bei einem Autounfall dezimiert wird. So taucht Julia Roberts mal wieder auf, nur um ruckzuck den Löffel abzugeben. Aber dann gibt´s ja noch ein paar Rückblenden mit ihr, kein Vergleich also zum unvergesslichen Sterben der Stars in MARS ATTACKS, der übrigens nur erbärmliche 6,2 Punkte bei imdb hat. Andreas Kilb schrieb in der FAZ: "In Hollywood, wo jede Story ihre Schublade hat, bilden Filme wie ZURÜCK IM SOMMER ein eigenes Genre. Sie laufen alljährlich zwischen Erntedank und Weihnachten an, spielen fast durchweg in Villenvororten und nehmen lange Umwege zum gesetzlich vorgeschriebenen Happy-End." Und: "Wie stets ist die formale Unglaubwürdigkeit auch eine inhaltliche. Um Inzest, Ehebruch, Elterngewalt und kindliche Rebellion soll es gehen, aber man sieht immer nur Schnipsel von alldem, thematische Fetzen, die sich in den lindgrün und rostbraun getönten Idyllen des Kameramanns Moder-Roberts verfangen haben wie Papierdrachen im Gebüsch." Wer noch mag, geht ins Passage, in die Koralle, ins UCI Mundsburg oder ins UCI Othmarschen.



Und: Ein Blockbuster-Sequel für die Multiplexe, der dritte Teil der MUMIE. Das sei ein "Achterbahn-Mix" mit einer "gigantischen Totenkopf-augenzwinkernden Massenschlacht!" Und: "Man wird fast schwindlig vor Effekten. Fankino für Kultfans". Schreibt die Bildzeitung. Ich bin schon schwindelig genug.
Läuft in sämtlichen Multiplexen und im Streits OF.



Und: Schlecht gemachter Teenieschwachsinn aus Großbritannien über böse College-Girls, der allerdings auf legendären Cartoons von Ronald Searle beruht, die seit den 50ern schon die Vorlage für mehrere Filme abgaben, deren Niveau wohl deutlich über dem des neuen Machwerks liegt. Richard Bruton stellt hier die Searle-Originale vor und bietet auch ein paar weiterführende Links. DIE GIRLS VON ST. TRINIAN läuft in fast allen Multiplexen.



Und: Ein deutscher Abschlussfilm mit einer lahmen Geschichte über Biofanatiker, die zwischen Drama und Satire pendelt. Nix gegen das Thema, scheint aber nicht mehr als die übliche ungelenke deutsche Fernsehware zu sein. DIE EISBOMBE läuft höchst halbherzig nur nachmittags an, im Koralle und im Passage, das den Film aber immerhin am Freitag und Samstag auch spät zeigt.



Und: Die FC-ST.Pauli-Doku ST. PAULI - RAUSGEHEN - WARMMACHEN - WEGHAUEN läuft jetzt regulär im 3001, im Abaton und im UCI Othmarschen und soll völliger Murks ohne Sinn und Verstand sein. Die leidgeprüften Fans werden auch diesen Film ertragen.



Wöchentliche Provinzialitätsmessung:

Diese Woche startet anderswo nur zusätzlich NUE PROPRIÉTÉ mit Isabelle Huppert. Da messen wir also erneut erstaunlich wenig Provinzialität, bei uns starten satte 90% der Filme.



Weiterhin:



DER GROSSE JAPANER - DAINIPPONJIN noch eine weitere Woche lang spät im 3001.

HAPPY-GO-LUCKY im Abaton (OmU), im Holi und im Zeise.

39,90 im Abaton und im Zeise.

BRÜGGE SEHEN UND STERBEN? noch um 18.00 Uhr im Holi und am Montag draußen im Schanzenpark. Da läuft außerdem diese Woche BANK JOB, am Donnerstag.

Im Millerntorstadion geht die Freiluftkinozeit zu Ende ein paar Filme laufen aber noch diese Woche, darunter OM SHANTI OM für die Bollywoodfraktion am Samstag.

Für lau wird auf dem Alsterdorfer Markt am Freitag LITTLE MISS SUNSHINE gezeigt.

Und wer I´M NOT THERE verpasst hat, hat am Sonntag um 22.45 Uhr im Abaton noch eine (letzte?) Chance. Sogar OmU!



Filme, die wir zum Glück nicht gesehen haben, Folge 20:

Der wohl mit großem Abstand unangenehmste der jüngeren US-Historien-Schinken. Beruht auf einem Comic von Frank Miller, der auch als Produzent beteiligt war und ist ähnlich wie SIN CITY mit Schauspielern realisiert, die vor komplett am Rechner erstellten Hintergründen agieren. Muss ein entsetzliches Hau-Drauf-Spektakel sein, wobei auch die Zuschauer nicht verschont werden. Höchstens auf dem Handydisplay erträglich.
Als Regisseur hat sich Miller zuletzt am großartigen SPIRIT von Will Eisner vergriffen, der bei uns Weihnachten in die Kinos kommt. Ich erwarte nichts Gutes.


Dies und das:


Am Mittwoch startet das Fantasy Film Fest in Hamburg. Bei der Durchsicht des Programms beachtet bitte, dass auch hier die Veranstalter nicht immer 35mm Kopien bekommen haben. Wenn bei den Angaben zum einzelnen Film "digital" steht, muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden. Vor allem auf einer großen Leinwand im Cinemaxx. Der Eröffnungsfilm heißt EDEN LAKE und erzählt von einem grauenhaften Wochenende am See. Vielleicht nur die übliche Slasherware, vielleicht auch mehr...



Umsonst und zuhause:



Am Donnerstag zeigt das Erste L.A.CRASH von Paul Haggis. Vielleicht wird der episodisch erzählte Film ein wenig überschätzt, sehenswert ist er aber auf jeden Fall. Um 23.15 Uhr, ShowView 7.641.026

Am Samstag läuft auf PRO 7 um 22.10 Uhr THE DESCENT, der höchst effektive Horrorfilm von Neil Marshall, dessen DOOMSDAY gerade ganz kurz in unseren Multiplexen aufgetaucht war. Wie üblich gekürzt für das Fernsehen, diesmal um satte 9 Minuten. Vielleicht also wieder eher ein Fall für den DVD-Verleih. ShowView 4.763.422

Nochmal Horror am Sonntag: DARK WATER ist wohl ein ausnahmsweise ganz gelungenes US-Remake eines japanischen Genrefilms, sehr atmospärisch, ohne viel Gemetzel. Regie führte der Brasilianer Walter Salles, der damals CENTRAL STATION gemacht hatte, bevor er für alles zu haben war, was so kommt. Zur Zeit arbeitet er an einer Verfilmung von Kerouacs "On The Road". Au Weia. Um 22.00 Uhr, ShowView 43.403

In der Nacht zu Montag läuft im MDR der dänische Film OKAY mit der tollen Paprika Steen, die eine ganz normale Frau mit ihren ganz alltäglichen Problemen spielt, ist bestimmt ganz nett. Naja, Andreas Kilb meinte in der FAZ: "Er ist okay. Mehr nicht". Um 00.20 Uhr, ShowView 9.156.237

DAS FRÄULEIN ist der doofe Titel eines Films, der von drei Frauen vom Balkan im Exil in der Schweiz erzählt. Hat 2006 in Locarno gewonnen. Mit Mirjana Karanovic. Am Montag im ZDF um 23.55 Uhr, ShowView 7.935.643

Das hübsche Kammerspiel INTIME FREMDE von Patrice Leconte mit Sandrine Bonnaire läuft auf N3 am Dienstag um 23.00 Uhr. ShowView 8.074.305


Und wie immer gibt es außerdem noch jede Menge weitere sehenswerte Filme, vielleicht mag diese Woche beispielsweise jemand wieder mal Lecontes DIE VERLOBUNG DES MONSIEUR HIRE auf arte sehen. Oder WENN FRAUEN HASSEN im Vierten. Oder WIE EIN WILDER STIER von Scorcese im Ersten. Wer suchet, der findet.



Kinos, Folge 38: Das Delphi in Berlin-Charlottenburg.

Ein historistischer Tanzpalast aus den 20ern, in dessen Innerem sich ein prunkvolles Kino verbirgt, das gleich nach dem Krieg in den ausgebombten Saal implantiert wurde. Hatte als Erstaufführungshaus unter den nahe gelegenen Kudammkinos zu leiden, ist seit den 80ern während der Berlinale wichtigste Abspielstätte des Forum und leistet sich seit damals eine für die Größe des Hauses erstaunlich ambitionierte Filmauswahl. Das prächtigste noch erhaltene Kino der Stadt.

Eine Googleabfrage, die letzte Woche jemanden auf diese Seiten führte: "Medusen".

7 Kommentare:

  1. Wer sagt denn, dass der St.-Pauli-Film "völliger Murks ohne Sinn und Verstand" sei? Habe jetzt ca. zehn Kritiken überflogen und nichts dergleichen finden können. Na egal, ich werde ihn mir sowieso anschauen. Übrigens sind wir Fans momentan gar nicht so leidgeprüft: Aufstieg, Klassenerhal - das macht schon mal zwei überwiegend gute Jahre in Folge.
    Und noch was: Ich musste mir aus beruflichen Gründen "300" anschauen und komme nun nicht umhin zuzugeben, dass der Film mir durchaus ein gewisses Vergnügen bereitet hat. Vor allem die Gewaltszenen hatten einen beträchtlichen ästhetischen Reiz - und die machen immerhin ca. zwei Drittel des Films aus. Letztlich machen ihn allerdings die Kriegsverherrlichung und der penetrante Männlichkeitswahn doch zum einem Schundwerk (das völlige Desinteresse des Regisseurs an den historischen Fakten lässt sich dagegen gut ignorieren).

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  2. Den St.-Pauli-Film muss ich auch sehen. Gehen wir zusammen? (Inklusive Blogbetreiber?)

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  3. Dass Ihr sowieso geht, ist ja klar, ihr müsst ja. Mich reizt das Thema bekanntermaßen herzlich wenig, lasse mich in einem solchen Fall aber jederzeit von einer guten Doku trotzdem ins Kino locken. Nur scheint das keinesfalls eine solche zu sein. Mein harsches Urteil, mit dem ich wie immer auch total daneben liegen kann, beruht auf der Kritik von Holger True im Abendblatt.
    Der Verriss zeigt sehr plausibel schwerwiegende Schwächen des Films auf: "Völlig fehlende Dramaturgie" wird bemängelt, das ganze sei "eine große Enttäuschung", schreibt der Vereinssympathisant. Ich glaube ihm.
    Alle mögen den Verein und so sind positive Kritiken dagegen mit Vorsicht zu genießen.
    Also geht bitte ohne mich, aber verratet doch hinterher, wie´s war.

    Und zu 300: Das mit dem ästhetischen Reiz, tja, das ist wohl Geschmackssache. Ich schau mir mal einen Ausschnitt an.

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  4. Zu "Factory Girl" gibt es auf der sehr unterhaltsamen Bad-Movies-Seite "The Agony Booth" eine sehr ausführliche Auflistung all seiner Schwächen:

    http://www.agonybooth.com/recaps/Factory_Girl_2006.aspx

    Man muß den Beitrag nicht komplett zu lesen um den Eindruck zu erhalten, dass der Vorwurf einer bewegten Fototapete nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.
    Um so verwunderlicher, dass der Film in der "seriösen" Filmkritik ein so großes Echo findet.

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  5. Tsss.....

    "300" ist einfach ein großartiges optisches Erlebnis!
    Nur wer hysterische Angst vor Verortung in homosexueller Orientierung verspürt, wagt dem zu widersprechen.
    Mann kann doch nicht jeden Film, gleich eines `Gruppe 47 Faselzirkels´am "Intellekuellenbarometer" abgleichen. Guck Du Dir ruhig "einen Ausschnitt" auf Deinem ollen Handy an, Kinoprovinzler. Das ist dann die wahre Zerstörung der Kinokultur!

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  6. Wahrlich sehr unterhaltsam! Kannte ich nicht, vielen Dank.

    In den Feuilletons wurde "Factory Girl" zwar viel und groß besprochen, aber gejubelt wurde da nicht gerade. Aber im Vergleich zu den USA und Großbritannien, wo die Kritiken mehrheitlich vernichtend waren, hört sich das wirklich alles noch erstaunlich milde an. Vielleicht hat das ja wirklich mit dem Starttermin zu tun, vielleicht ist die Rechnung aufgegangen.

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  7. @Jan: Oha, dann bin ich wohl einfach etwas ängstlicher als du.
    Mein Handy ist übrigens wirklich oll, so oll, dass die Zerstörung der Kinokultur aus technischen Gründen leider nicht sofort stattfinden kann.

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